Briefe aus dem Welttheater

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In älteren und anderen Zeiten als den unsrigen war es üblich, dem vertraulichen Brief Avisen, Beylagen, Courantes oder auch Zeddel genannte Papiere beizufügen, die nicht nur dem Briefempfänger zugedacht waren, sondern durch allerlei neugierige Hände gingen, bis sie endlich knittrig und abgegriffen nach ihrem Gehalt und Wert archiviert oder doch skartiert wurden.

In ihnen fanden sich vermischte Neuigkeiten lose gesammelt, etwa von Kriegsfront, Kaufmannsgarn oder höfischer Kabale. Später nannte man solche Briefbeilagen am liebsten Zeitungen, und es war nicht lang hin, da sich einige fanden, die sich für diese mühevolle Sammlerarbeit bezahlen ließen und auf den vertraulichen Teil des Briefs verzichteten.

Es sind jene ersten Zeitungen im Kuvert, die uns Vorbild für diesen öffentlichen Briefwechsel sein sollen, in dem der eine dem andern Gedachtes und Geschehenes aus dem Welttheater zusammenträgt, auf dass es seine Kreise ziehen möge. Schreiben würden wir sie uns sowieso, unsere Zeitungen, und vielleicht gefällt es ja diesem oder jenem, Einsicht zu nehmen.

Lucius Maltzan
& Simon Nehrer

Lucius Maltzan und Simon Nehrer schreiben sich hier gelegentlich und abwechselnd; schon deshalb, weil selten weniger als tausend Kilometer zwischen ihnen liegen. Und wenn sie doch einmal persönlich das Vergnügen miteinander haben, ist zumeist mehr Wein als Verstand im Spiel. Daher besser aufschreiben. Sie kennen und schätzen einander nicht erst seit ihrer gemeinsamen Arbeit in der Redaktion des Wahlmagazins «Das kleine Einmaleins». Außerdem sei noch gesagt, dass sie sich auch über Antworten ihrer unbekannten Adressaten freuen.

Ad Acta

Nr. 16, 19. Oktober 2022, Simon an Lucius Nr. 15, 31. Jänner 2022, Simon an Lucius Nr. 14, 27. April 2021, Simon an Lucius Nr. 13, 6. Dezember 2020, Simon an Lucius Nr. 12, 13. November 2020, Lucius an Simon Nr. 11, 5. August 2020, Simon an Lucius Nr. 10, 21. Juli 2020, Lucius an Simon Nr. 9, 8. Juli 2020, Simon an Lucius Nr. 8, 29. Juni 2020, Lucius an Simon Nr. 7, 22. Juni 2020, Simon an Lucius Nr. 6, 14. Juni 2020, Lucius an Simon Nr. 5, 7. Juni 2020, Simon an Lucius Nr. 4, 31. Mai 2020, Lucius an Simon Nr. 3, 23. Mai 2020, Simon an Lucius Nr. 2, 16. Mai 2020, Lucius an Simon Nr. 1, 9. Mai 2020, Simon an Lucius

Nr. 16, 19. Oktober 2022

Lieber Lucius, der vorliegende Brief befasst sich mit dem sogenannten Wissenschaftsjargon, wobei gleich eingangs auf die Problematik des Begriffes hingewiesen sei, welcher in Fachkreisen seit geraumer Zeit wissenschaftlich umstritten ist; aus den verschiedensten Gründen, welche an dieser Stelle leider nicht näher ausgeführt werden können, in den letzten Jahren zusehends in Verruf geriet und hier nur mangels Alternativen fürs Erste stehen bleiben muss. Es würde jetzt zu weit führen und den Rahmen der Darstellung sprengen, dieses unendlich reiche und vielschichtige Gebiet ins Allgemeine breitzutreten oder sich im Besonderen zu verlieren. Aufgrund der Enge der Umstände, der Flüchtigkeit der Zeit, der Ungeduld der Leser, der Sparsamkeit der Verleger und unzähliger weiterer Gründe, welche an dieser Stelle leider nicht näher auseinandergesetzt werden können, muss der vorliegende Brief den Geboten der Prägnanz gehorchen, sich auf das Wesentliche beschränken, ein gewisses Grund- und Vorwissen voraussetzen und ohne jegliche Präliminarien sogleich zur Sache kommen. Ich muss den Leser jedoch schon jetzt für die zahlreichen, augenscheinlichen Mängel des vorliegenden Briefes um Nachsicht bitten. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass sich der vorliegende Brief weder als Ein- oder Hinführung noch als Fort- oder Weiterführung und schon gar nicht als Ausführung jeglicher Art verstanden wissen will, noch als Aus- oder Überblick oder Übersicht, noch als Einladung, Vertiefung oder gar als sogenannter Versuch; und überhaupt eingehend davor warnen, den vorliegenden Brief als Brief im eigentlichen Sinne des Wortes zu begreifen. Vielmehr muss an dieser Stelle auf die zahlreiche, einschlägige Fachliteratur verwiesen werden, welche am entsprechenden Ort ohnehin leicht zu finden ist, und nicht zuletzt auf meine eigenen weitläufigen Ausführungen in vorangegangenen Briefen, ohne deren Vorkenntnis und Studium ein tieferes Verständnis des vorliegenden Briefes völlig ausgeschlossen ist. Der auf diese Weise eindeutig abgegrenzte Stoff wurde mit Zahlen und Daten angereichert, mit Tabellen, Graphen, Bildmaterial und weiteren Gärmitteln versetzt, nach den handelsüblichen und bewährten dialektischen, analytischen, komparativen, taxonomischen, multidisziplinären und quantitativen Methoden gestreckt und ausgewalkt, schließlich dem Leser zur besseren Verdaulichkeit ausgestanzt: erst in Paragraphen und Perioden, in Folge in Hypo- und Parataxen, schließlich in Lexeme, Phoneme und Morpheme, endlich in Vokale und Konsonanten. Diese für den Autor zusätzliche und beschwerliche Mühe stellt für den Leser jedoch eine große Hilfe zur Digestion dieser oft schwer verträglichen Materie dar. Im Sinne der Lesbarkeit und Einheitlichkeit wurde der vorliegende Brief in Absprache mit allen nur erdenklichen moralischen Instanzen durchgängig in der neuen deutschen Rechtschreibung abgefasst. An dieser Stelle möchte ich meinem getreuen Duden-Universalwörterbuch meinen verbindlichsten Dank aussprechen, für seinen unermüdlichen Beistand und seine zahlreichen Hinweise und Berichtigungen, welche Eingang in den vorliegenden Brief gefunden haben. Ich danke ebenso allen übrigen Stützen, Gehstöcken und Krücken, welche mir auf meinem Weg zur Seite gestanden sind. Es würde jetzt zu weit führen, sie hier allesamt namentlich zu nennen. Ganz im Gegensatz zur bisher verfügbaren Literatur, welche von problematischen Grundannahmen ausgegangen, mit zweifelhaften Methoden fortgeschritten und zu voreiligen Schlüssen gelangt ist, berücksichtigt der vorliegende Brief auch die neue und neueste Forschung der Fachgemeinde, die eine Neubewertung der herrschenden Meinung unvermeidlich werden lässt. Dabei ist es ganz natürlich, dass dieser klar und deutlich dargelegte, jedem gesunden Menschenverstand einleuchtende und in jeder Hinsicht richtungsweisende Brief durch oberflächliche Behandlung und die daraus zwangsläufig resultierenden Missverständnisse, die Verkehrtheit der Begriffe und die Fehlallokation der Forschungsmittel, das fehlende Interesse der nachkommenden Generationen, die allseits zu beobachtende mangelhafte Grundlagenausbildung und allerlei weitere Gründe, welche an dieser Stelle leider nicht ausführlicher erörtert werden können, die Vorraussetzungen der Rezeption und Würdigung, die ihm gebührte, gar nicht vorfinden kann. Es versteht sich von selbst, dass sich der vorliegende Brief darin erschöpfen musste, einige Kernfragen in Grundzügen zu berühren, und weiterführende Fragen erst in nachfolgenden Veröffentlichungen verfolgt werden können. Nur langsam und allmählich werden auch auf unser spezialisiertes Fachgebiet der wohltuende Schein der Wissenschaft fallen und die Erkenntnisse zum Wohl der Menschheit reifen und gedeihen. Dein Prof. Simon

Nr. 15, 31. Jänner 2022

Lieber Lucius, Du hast länger nichts von Dir hören lassen. Ich nehme es mir zum guten Zeichen Deiner Geschäftigkeit, nur treib es mir mit dem Studieren nicht zu weit: Es hat uns noch die klügsten Köpfe verdorben. Mir kam unlängst eine kleine Episode in den Sinn, die sich vor drei, vier Jahren in der Oper zugetragen haben mag: Vor mir hatte sich eine größere Herrenrunde eingefunden, die sich ganz jugendlich und geschäftig gab, gut gealtert, möchte man sagen. Man sah ihnen eine gewisse Ungelenkigkeit an, wie sie sich da in die Sitze zwängten: Dieser Opernbesuch mochte nicht der erste, doch der erste seit Langem sein. Kaum hatten sie die Sessel warmgesessen, Prunk und Gold und Tand bewundert und ein paar schlechte Scherze fallen lassen, als die Lichter erloschen. Stille legte sich über den Saal, und man wartete, dass die Streicher ihr ein Ende machten. Da schwärmte eine junge Nackttänzerin aus, allen Hüllen entflohen drang sie wallend aus dem Dunkel und hüpfte im fliegenden Takt der Pauken über die Szene; und wie sie da auf leichten Füßen von einem Ende der Bühne zum anderen segelte, hin und her und hin und her, so wanderten auch die Männerköpfe vor mir hin und her und hin und her, und alles, was da nicht niet- und nagelfest war, machte ruckartige Freudensprünge an den unbetonten Schlägen. So mochte es wohl im Frühling bei den Arkadiern zugehen. Die Herren vor mir saßen unruhig und verlegen im Sessel, ganz erstaunt, was sich denn die Leute von den schönen Künsten wieder haben einfallen lassen, als sich einer von ihnen zu den Übrigen beugte und auf unnachahmliche Weise sagte: »Hot si scho auszahlt.« Da brach die Erleichterung aus ihnen hervor, es war ein Gelächter reihauf, reihab. Man sah sich allerorts nach uns um, aber wie das so ist, folgten einige Nachbeben, und kaum konnte sich einer nicht mehr halten, konnten es wieder alle nicht. Daran dachte ich zurück, als ich unlängst, wie im Theater üblich, wieder vor ein paar Nackten zu sitzen kam, und war dankbar, in diesem ersten, langatmigen Abschnitt gleich in Erinnerungen und Gedanken hinzusinken. Ist das etwa das Zeichen einer neuen Freizügigkeit, dachte ich, die sich nur in den Theatern offenbart? Je weniger Nackte in den Bädern, desto mehr Nackte auf den Bühnen? Entschädigt man sich hier für die Prüderie im Privaten? Für den Akt in den Betten mit dem Akt auf den Brettern? Wir sehen ein paar Nackte auf der Bühne und fragen uns: wieso? – oder vielleicht auch: wieso nicht? Während der Längen, die jeder Theaterabend hat, lässt man sich das schon gefallen. Die Männer küren in aller Ruhe den schönsten Busen des Abends, und die Frauen dürfen sich über die Straffen ärgern und lassen sich über die Dürren und Dicken aus. Natürlich muss auch stets zumindest ein Hahn in den Korb, dass alle was zum Schauen haben. So ist ein jeder gut beschäftigt und kann sich über schlechte Inszenierungen und Darbietungen hinwegtrösten. – Jedoch: Das enthüllt uns die Sache nicht, denn die Enthüllten, die man auf den Bühnen zu sehen bekommt, sind selten ansehnlich; als wollte man nicht, dass sie uns gefielen. In der Oper ging man letztens gar einen Schritt weiter, kastrierte vorab die Männchen und hängte sogleich je ein skabröses Requisit (Heine), je einen Meister Iste (Goethe) den Weibchen um die Lenden. So wandelten Hermaphroditen und Kastraten Seit an Seit, und jene hatten, was diesen fehlte, nur um dem Voyeur in uns den Anblick zu verleiden. Es fällt auf, dass sich diese Nackten zumeist in konvulsivischen, algenartigen Urbewegungen fortpflanzen. Dann wieder flattern sie wie wild durcheinander oder wackeln mit allen Zehen und Fingern. Manchmal geben sie auch Urwaldgeräusche von sich oder ruckeln zu ozeanischer Sphärenmusik über den Boden. Vielleicht ist es ihnen also darum zu tun, ein paar übereilte Evolutionssprünge wieder zurückzuspringen, uns in einen behaglichen, luftigeren Urzustand zurückzuversetzen, eine nie erlebte, unvordenkliche, unterunterbewusste Erinnerung wachzurufen, sodass wir mit Gottfried Benn endlich ausriefen: O daß wir unsere Ururahnen wären. Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. Leben und Tod, Befruchten und Gebären glitte aus unseren stummen Säften hervor. Man sitzt im Theater und fragt sich: Wer sind diese guten Leute? Sind es die arbeitslosen Bühnenbildner, die sich umzulernen gezwungen sahen, weil einer von ihnen hinreicht, um den alten, schwarzen Vorhang hinten auf- und abzuhängen? Ist das die böse Rache der Licht- und Tontechniker, die das Ruder an sich rissen? Sind es vor allem: immer dieselben? Habe ich den da mit der Wampe nicht schon einmal anderswo gesehen? Eilt auch die Wiener Nacktkomparserie, wie die Wiener Philharmoniker zwischen Musikverein und Staatsoper, fromm und arbeitsam zwischen den städtischen Schaubühnen hin und her und hin und her – zu zwei, drei Enthüllungen am Tag? Oder ist es vielleicht gar eine Art exhibitionistische Schocktherapie, eine sogenannte Selbsterfahrung? Ist dieser Auftritt etwa kein bezahlter, sondern: zu bezahlen? Oder: Steht dieses Nacktsein gleichsam für ein Anderes?, sozusagen für ein unbekanntes Drittes?, zeigen die da alles her, um allen etwas aufzuzeigen?, stehen die da etwa bloß, bloß weil die für etwas stehen?, binden die sich gar nichts um, um uns etwas aufzubinden?, wird da enthüllt, um zu enthüllen?, entblößt, um bloßzustellen?, und steht da unten alles frei, weil’s auch allen freisteht, zu entscheiden, was das sei? Ist das wieder die sogenannte Interpretationsfreiheit, die so sehr von sich reden macht? Ist das wieder eine verkleidete, ja, eine sogenannte Dialektik zwischen Gekleideten und Entkleideten, Verhüllten und Enthüllten, Angezogenen und Ungezogenen? Mein lieber Lucius, wir haben alle Zeit der Welt. Gelassen wollen wir tragen, was die Gegenwart uns bringt. Zwar kurz ist das Leben, allein, ein Glück, die Kunst ist kurzlebiger. Dein kurzlebiger Simon

Nr. 14, 27. April 2021

Lieber Lucius, noch im alten Jahr, als sich die ersten Frosttage in die steirischen Täler legten, war der Bergbauer Bachler kaum aufgewacht, schon brach ihm ein eiserner Seufzer aus der Kehle, und das Gesicht verbarg er zwischen den Laken. »Mein Hof, meine Almen, mein Leben: unterm Hammer!«, dröhnte es gedämpft unter der Tuchent hervor, und er verwünschte den Herrgott, einen Hoffnungslosen das Träumen gelehrt zu haben. »Ein herrlicher Traum war das«, jammerte er vor sich hin, als ihn die Wonnen der vergangenen Nacht noch einmal überkamen. Eine Nacht lang war ihm gewesen, als nähme man ihm endlich den Stein von der Brust, der ihn seit Jahr und Tag bedrückte; zum ersten Mal atmete er wieder freie Luft. Doch die Schulden, nächtens beglichen, waren morgens zurück, und dieselbe bleierne Hand ruhte wieder schwer auf seinem Haupt. Tatsächlich schleppte sich der Bergbauer Bachler, seit die Mahnbriefe eintrafen, nur noch mit gesenktem Kopf durchs Dorf, und mit jedem Brief neigte sich der Kopf ein Stück weiter zu Boden. Rechne sich einer aus, was ich erst in Schilling schuldig geblieben bin, sagte sich der Bergbauer Bachler. Schon war er drauf und dran, selbst ins Rechnen zu kommen, als er sich noch rechtzeitig unterbrach und sich das Kopfrechnen verbot. Dem seligen Vater wieder in die Augen sehen können, dessen Lebenswerk mir in den Händen verdirbt, dachte er jetzt; der guten Mutter wieder in die Augen sehen können … plötzlich sahen ihn die Mutteraugen traurig an, und beim Gedanken an die Ärmste, die unten im Kabinett schlief, stieß er den zweiten Seufzer an diesem Morgen aus und verkroch sich wieder in den Federn. Lange musste er nicht überlegen, ehe der Entschluss fiel. Im Stallgebälk, über seinen dreißig Rindern, wäre das Seil geschwind zum Strick gedreht; die zugefrorene Holztränke, der rostige Stacheldraht, des Vaters Jagdgewehr, das in der Stube hing … da sah er das Schlachtmesser vor sich, und auf einzigartige, uns unerklärliche Weise schloss sich für den Bergbauern Bachler beim Gedanken an das Schlachtmesser ein Kreis. Die Hand griff nach seinem Hals. Nur gut und gerecht schien es ihm, dass sich das Schlachtmesser, das er der warmen Rinderkehle so oft angelegt hatte, zuletzt gegen ihn selbst richten würde. Mal sterben sie aus Langeweile, mal gehen sie an sich selbst zu Grund, mal holt sie die Nacht ohne Tag im Frost; und der Vater starb mir an der Zeit und ich gehe wie meine Kälber. So ist es und so ist es gut. In sich und seine Gedanken versunken, wand er sich aus dem Bett, rasierte sich und trat traumverloren in die Stube. Da waren sie, die Mutteraugen. Doch nicht traurig, nein, sie sahen voll Freude auf, als er den Raum betrat. Ein Gespräch verstummte. Jetzt erst wurde er des Fremden gewahr, der bei Tisch saß und die städtische Herkunft schon im Gruße verriet. Er stellte sich als Redakteur einer Zeitung vor, die auch dem Bergbauern Bachler ein Begriff war. Der Redakteur machte sich sofort daran, unverständlich und freundlich auf ihn einzureden, aber in Gedanken war der Bergbauer Bachler schon ins Dorf hinabgestiegen und an den Zeitungsstand getreten, wo auch besagte Zeitung auflag. Es kam ihm nun lächerlich vor, dass er früher jahrelang, immer donnerstags, nur für die Zeitung bis ins Dorf hinabgestiegen war. Nichts war ihm damals schöner als das Zeitunglesen; er hielt es gar für seine Pflicht und verachtete seine Freunde, wenn sie nie zum gedruckten Blatt griffen. Doch bald begriff er, dass die Zeitungen entgegen ihrer Behauptung, täglich eine neue Zeitung zu drucken, in Wahrheit jeden Tag dieselbe Zeitung drucken, und schämte sich, auf ihr wichtiges Getue hereingefallen zu sein. Es muss den Tag gegeben haben, da er das erste Mal einen Teil der Zeitung, etwa das Feuilleton, ungelesen wegwarf: Kaum hatte er die Zeitung wie jeden Donnerstag am Zeitungsstand erstanden, schon warf er das Feuilleton und bald auch die Chronik ungelesen in den Müll. Mit der Zeit musste er immer weitere Teile der Zeitung wegwerfen, bis er schließlich die ganze Zeitung, soeben nur noch aus Gewohnheit erstanden, sofort und ungelesen und wie sie war neben dem Zeitungsstand entsorgte. So ging das für einige Wochen, bis er schließlich die Zeitung ein letztes Mal, sozusagen für immer in den Müll warf und nie wieder, schon gar nicht donnerstags, zum Zeitungsstand ins Dorf hinabstieg. Wen er auch fortan mit der Zeitung antraf, er betrachtete ihn nur noch verächtlich und beklagte, dass man sich heute schon zu den Klügsten zählen dürfe, wenn man bloß die Zeitung liest. Der Bergbauer Bachler bemerkte plötzlich zu seinem Unglück, dass der Redakteur noch immer mit ihm sprach. Es roch nach Kaffee. » … erstaunenswert, wie viele Spenden aus dem ganzen Land eingetroffen sind. Einmalig, Ihr Fall! Die Menschen haben eben doch ein Herz für die Bauern. Mit dem Bankdirektor habe ich vorhin gesprochen. Er lässt Sie recht schön grüßen. Er möchte Sie wissen lassen, dass die Vierhunderttausend gut angekommen sind. Die Pfändung ist selbstredend abgesagt. Ich nehme dann einmal auf. Man hat uns das Titelblatt schon …« Der Bergbauer Bachler hatte von alledem nichts verstanden, dachte an den Schlachthof, überlegte, wo das Schlachtmesser wohl liegen mochte, erinnerte sich, dass er es gestern abgespült und für den heutigen Tag geschliffen hatte. Die Mutter, zwar in großer Geistesgegenwart, und doch im Glauben, der Sohn sei schlicht vom plötzlichen Geldsegen überwältigt, wandte sich schnell an ihn: »Christian, sei so gut, bring uns die Filetstücke aus dem Schlachthof, die guten von gestern!«, und gutmütig zum Redakteur, »dann bereiten wir dem Herrn Doktor erst einmal ein schönes Mahl«, und als er schon aus der Tür war, nach dem Fleisch zu sehen, hörte er die Mutter noch sagen: »Das Steirerzimmer richt’ ich Ihnen auch, Herr Doktor. Sie haben ganz recht, den Zug in Unzmarkt erwischen Sie nimmermehr.« Es war eisig kalt auf dem Weg zum Schlachthof, wie es das Leben an der Baumgrenze nicht anders kannte. In der Bergesstille hallte das Stubengespräch in ihm nach. Er hörte sich abermals Antwort geben und fand, dass er nicht unvernünftig gesprochen hatte, obwohl er zuvor, in der Stube, in Gedanken schon auf dem Weg zum Schlachthof, und jetzt, auf dem Weg zum Schlachthof, in Gedanken wieder in der Stube war. Allmählich kam ihm, dass vielleicht wirklich alle Schuld beglichen war, dass unverhoffte Spender ihn und seinen Hof aus ihrer verlorenen Lage befreit haben mussten. Und nun saß ein Redakteur aus der Stadt bei ihm in der Stube, um Bericht zu erstatten, reimte er sich weiter zusammen. Tatsächlich musste es so gekommen sein; die Tatsachen ließen keine anderen Schlüsse zu. Und wenn schon: Solange sich alle verhielten, als hätte er keine Schulden, hatte er auch keine Schulden zu fürchten. Zum ersten Mal an diesem Morgen sah man den Bergbauern Bachler lächeln. Stolz überschaute er seine frostgrünen Almen, die vor ihm in der Wintersonne lagen. Dasselbe wohlige Gefühl der vergangenen Nacht legte sich wieder warm wie eine Decke um ihn; die Welt, die ihm immer nur als Fremde begegnet war, heimelte ihn in allen Farben des Morgens an. In tiefen Zügen nahm er die Bergluft in die Brust, und weil es der Mensch nicht lassen kann, von Zeit zu Zeit große Schwüre zu leisten, wenn er vergisst, dass schon der letzte nicht zu halten war, schwor sich auch der Bergbauer Bachler, das gewonnene Glück nicht nur wie einen Schatz zu hüten, sondern auch mit allen Menschen zu teilen. Du wirst verstehen, dass ein solch salbungsvoller Bauernschwur gleich auf die Probe gestellt werden musste. Denn noch bevor er das Schlachthaus erreichte, kam ein Wanderer aus dem Tal hinauf und grüßte herzlich schon von fern: »Wo geht es hier zum Bachlerhof?« »Der Bachler, das bin ich«, darauf der Bergbauer Bachler mit ungekanntem Stolz, und als der Wanderer erzählte, fünfzig habe er gespendet und sei aus der Stadt gekommen, ihn zu besuchen, umarmte er ihn wie einen alten Freund und hieß ihn, sich in der Stube aufzuwärmen; er komme gerade recht zum Mittagessen. Freudig schloss der Bergbauer Bachler das Tor auf, um den Lungenbraten und nun auch das Beiried mitzunehmen. Es kam ein zweiter Wanderer und begegnete ihm in demselben städtischen Gruße. Wieder nahm er ihn in den Arm, bedankte sich artig und blieb entschlossen, seinem Glück nicht untreu zu werden; nehme ich eben den Rostbraten und die Hüfte und zur Sicherheit das Schulterscherzel auch noch mit. Als der Bergbauer Bachler, das blutige Fleisch im Arme, in die Stube trat, waren sie bereits zu siebt und saßen schon beim Wein, den die Mutter aus dem Keller gebracht hatte. Zwei Redakteure eines Lokalblatts waren noch hinzugekommen, und zwei Großspender, die, als die Grußworte gewechselt waren, gleich nach einem Bett für die Nacht fragten. Der Zug in Unzmarkt war tatsächlich nicht mehr zu erreichen, und weil sie sich so großzügig gezeigt hatten, konnte der Bergbauer Bachler nicht umhin, die beiden zu bewirten. Aus der Kuchl kam die Mutter und sah gerne, dass sich der Sohn in seiner neuen Rolle eingewöhnte. Sie nahm ihn zur Seite: Das Fleisch werde nicht reichen. Da ging er zum Stall, ein Kalb zum Schlachthof zu führen. Doch auf dem Forstweg, der sich lang und breit aus dem Tal durch die Almen schlug, kam ihm schon der Strom an Wandersleut entgegen, der noch am Horizont nicht versiegte. Sieben schnaubende Kälber führte er daraufhin durch die Kälte zum Schlachthof; in seinem Glück wollte er all diesen guten Leuten ihre Güte mit magerem Kalbfleisch vergelten. Du wirst erraten, wie die Geschichte für ihn enden musste. Dreißig Rinder waren am Abend verkocht, und am Morgen fand man den Bergbauern Bachler im Schlachthof. Den Tag hatte er in einem Glück verlebt, dass es für ein Bauernleben reichte, und die Gäste gingen satt nach Haus. Simon

Nr. 13, 6. Dezember 2020

Lieber Lucius, über den Latisberg zu wandern ist die größte Lust, und wenn am Gspött die Sonne hoch genug noch steht, obwohl die Tage immer kürzer werden, zieht es den Wiener in die Wäldergräben. Wird schon zu Abendtisch gerufen: dann längs des Reisenbergbachs und auf nach Haus, unter hängenden Weingärten in rot oder gold, wie ihre Reben im Frühjahr helle oder dunkle Beeren austreiben. Doch ist Zeit genug, ist dem Wiener auch das Krapfenwaldl nicht zu weit, dann geht er bis zum Schreiberbach und lässt die Wildgrube noch hinter sich, dann ist der Nussberg ihm das Einzige, und er kehrt nicht heim, ehe vor seinen Augen die Donau nicht das Weite suchte. Es wurde Abend, und er eilt in die Stadt. Er lässt sich vom Krottenbach in Richtung ihrer Lichter treiben. Unter unseren Städten fließen Flüsse ungebrochen, die unsere gepflasterten Straßen überbrücken. Die neue Straße macht die alte vergessen. Er watet den Tiefen Graben gegen den Ottakringer Bach stromaufwärts, bis sich vor ihm die Freyung öffnet. Tausend Jahre lang floss hier ein Fluss, doch seine Füße bleiben trocken. Die Ohren lassen sein Rauschen nicht an ihn heran. Die Zeit spielt ihm einen Streich. Er kehrt dem beißenden Wiener Herbstwind den Rücken, und seinen Mantel zieht er enger. Rechts drängt es ihn in die Naglergasse, damit er nicht am Schwarzen Kameel vorbeimuss. Was für ein Anblick: Wer krümmte hier die Welt zurecht? Eine seltsame Wölbung ohne Ende, eine tausendjährige Kurve zieht ihn empor, wie die ersten Stufen einer unendlichen Wendeltreppe. Es war ein alter Römer, der am Reißbrett saß und sich im Stillen sagte: Die Stadtmauer laufe rund ums Eck. Einer zieht eine Kurve in den Sand, und noch zweitausend Jahre später gehen wir ihren Schwung entlang im Kreis. Ein junger Römer spaziert durch die Straßen der ewigen Stadt. Dort, wo sieben Hügel ins Ebene stürzen und verebben, bis der Tiber seinen Haken schlägt; jenes weite Kornfeld, das ein alter Römer einst das Marsfeld taufte und aus Bequemlichkeit bis heute diesen Namen trägt. Zu späteren Zeiten thronte hier das erste steinerne Theater Roms, die marmorierte Selbstbespiegelung des siegesverwöhnten Pompeius, die nur auf dem Marsfeld Platz fand. Junge Römer fielen in eine neue Zeit. Um von der Tiberinsel zur Engelsburg zu spazieren und also das Marsfeld zu queren, bleibt ihnen heute nichts anderes übrig, als sich im verästelten römischen Gasslwerk zu verlieren. Haben sie sich einmal widerwillig an die eigene Zeit gewöhnt, an das Rechts und Links, das Rechts in die Via del Monte della Farina, das Links in den Vicolo dei Chiodaroli, das Rechts in die Via dei Chiavari, stehen sie mit einem Male umso ehrfürchtiger vor der Via di Grotta Pinta, die sie um ihre hohe, tausendjährige Kurve trägt. Es ist dieselbe, die den Tribünenbogen abrundete, den Pompeius übers Marsfeld spannte. Einer zieht eine Kurve in den Sand; ob sie überdauere oder nicht, hat sich der Zufall ausbedungen. Eigentlich hatten sich die alten Römer das feste Theater versagt, um sich ihrer Schaulust zu entwöhnen. Aus gutem Grunde hatten sie die Spiele auf die hölzernen Bühnen verbannt und den steinernen ein Verbot auferlegt, das erst Pompeius, der Gerissene, elegant umging. Seine Tribüne sei in Wahrheit – so seine unglaubwürdige, aber schlussendlich überzeugende Einrede – eine einzige gewaltige Freitreppe zu Füßen des oben thronenden Venus-Schreins; der ganze Prachtbau somit nichts weiter als ein argloser Tempel. Pompeius hinterließ Rom seine erste feste Bühne – und der Welt weder den ersten noch letzten Beweis, dass jede Verwässerung einer guten Sitte zugleich der Anfang ihres Endes ist. Der Streit entbrannte in deutschen Landen zur Zeit der Aufklärung von Neuem, doch diesmal schlugen sich die Zensoren aufseiten der festen Bühnen. Die Haupt- und Staatsaktionen, das derbe, kurzweilige Stegreiftheater auf Wanderbühnen, waren den Aufklärern seit je zuwider. Ginge es nach ihnen, sollten die deutschen Bühnen weniger unterhalten denn erziehen. Kein leichtes Unterfangen, denn der sogenannten regelmäßigen, studierten und also festgeschriebenen deutschen Stücke gab es wenige, die dem Zensor hätten vorgelegt werden können. Neben einer Reihe englischer, französischer und italienischer Übersetzungen verfügten die deutschen Aufklärer nur über die Dramen Lessings, die nach seinen Zeitgenossen noch viele weitere Generationen langweilen würden und vor zunehmend leeren Rängen zur Aufführung kamen, während sich die Stegreifspiele ungetrübter Beliebtheit erfreuten. Davon lässt sich ein großer Geist nicht aufhalten. Das Stegreifspiel wurde im Namen der Aufklärung unter Strafe gestellt. Maria Theresia erließ ihr Extemporierverbot, das den Schauspieler dem geschriebenen Wort verpflichtete. Die Zensoren setzten sich ins Theater und hingen sprungbereit an seinen Lippen. Wer improvisierte, büßte seinen Leichtsinn in Kerkerhaft. Die extemporierenden Narren wurden also nicht von der Bühne gestoßen; ihre Narretei wurde vom geschriebenen Wort gezähmt – zur stubenreinen, vorhersehbaren Witzelei. Endlich hatte alles seine Ordnung, und die regelmäßigen Stücke konnten ungestörte Triumphe feiern, bis die Schauspieler nicht länger aus dem Stegreif zu spielen vermochten und nur noch nachsagten, was die Souffleusen ihnen einflüsterten. Und so wurde es nie abgeschafft, sondern Schritt für Schritt aufs ganze Leben ausgeweitet, bis alle Rollen ausgeschrieben waren. In unserer Welt gilt das Extemporierverbot! Die Zensur schafft sich zuletzt selber ab. Ein junger Grieche steht am Hafen von Delos. Es ist ein Hügel droben, über den ein Theater sanft ins Meer bricht. Er steht vor leeren Steinbänken, doch er sieht sie reich besucht. Er steht vor versandeten Hafenbecken, doch sieht er volle Segel nach Nordwesten ziehen. Der warme Abendwind, der ihm ins Gesicht bläst, ist derselbe Meltemi wie einst. Unsere Städte stehen heute schon auf ihren Ruinen. Die Zeit muss sie lediglich freilegen. Doch stehen wir vor den Ruinen von Delos, spielt die Zeit uns wieder einen Streich. Am Latisberg, den wir heute Cobenzl nennen, kehrt ein junger Wiener Herbstlaub zu Laubhäufchen, mit einem alten Reisigbesen. Die tausendjährige Kurve ruft ihn beim Namen; uns trennt allein die Zeit, in die wir fielen. Er steht über den Dächerwäldern seiner stolzen Stadt, unter deren dichter Krone Jung und Alt den Tag bespricht und das Abendmahl schon richtet – und sieht ihre Grundfesten mit einem Male brach und farblos in der Sonne liegen. Wo sich zuvor Fassaden aneinander reihten und Dächer um dünne Luft rangen wie Bäume um Sonnenlicht, entfalten sich vor seinen Augen mit einem Schlage ruhende Ruinenlandschaften, bis der Horizont sie schließlich einholt. Dürre Gräser überziehen verwitterte Mauerreste, und wilde Ziegen lecken Salz von sonnerhitzten Steinen. Eine Stadt geht unten gleichgültig ihrem Geschäfte nach, während hier oben eine Welt zerfällt. Dass dem Mensch ein Geist geschenkt war, der unter seinem eigenen Gewicht zusammenbreche. Fahrlässig, wer die Welt zum Sprechen bringt. Das Laub zu Laubhäufchen! Wenn nicht gekehrt wird, sagt er sich schnell, und sei es nur für einen Herbst, stehen wir in einem Urwald. Efeu wird ranken und einschnüren und würgen. Der Keller feucht, der Dachboden verschimmelt und verwuchert, das ganze Haus von Moos umhüllt und ertränkt, alle Luftzugänge von Flechten verstopft, bis der Waldboden es endlich verschluckt. Wenn nicht gekehrt wird! Das Laub zu Laubhäufchen! Unser Lebensraum ist nur ausbedungen. Wo heute berühmte Städte, werden morgen ruhige Wälder stehen. Ganz Europa ein Wald. Wenn nicht gekehrt wird! Einmal würde ich dir über Wien schreiben, habe ich dir im Mai versprochen. Nun schenkt das Leben uns einen neuen Herbst. Ein Geruch von Kaminrauch und feuchtem Waldlaub liegt kalt und träge in der weißen Luft. Eine Welt liegt im goldenen Sterben; eine neue wirft im Frühjahr Schatten neuer Zeiten. Einmal kommt der Tag, der dich nicht enttäuscht. Einmal wirst du aus dem Stegreif leben! Simon

Nr. 12, 13. November 2020

Lieber Simon, dass ich die Feder so lange nicht bemüht habe, ist weniger einer inneren Leere denn einer Überfülle des Äußeren geschuldet. Vor allem aber hat mich, ich gestehe es frei, lange Zeit kaum etwas mit einer solch unentrinnbaren Vordringlichkeit bewegt, dass ich es ohne jede Not und Mühe zu Papier gebracht hätte. Bis zu einem denkwürdigen Abend in der letzten Woche. Gestatte mir eine rohe Schilderung der Ereignisse. Kurz nach Abenddämmerung. Einigermaßen umnachtet befand ich mich auf dem kurzen Fußweg von der Universität zu meiner Londoner Wohnung. Auf meiner üblichen Geheimroute durch die beruhigten Ecken von Covent Garden spazierte ich durch die kleine Gasse südlich des alten Marktplatzes. Da hastet mir ein Wächter in Warnweste entgegen: »Don’t go there, my friend!«, ruft er im Vorbeilaufen. Erst jetzt werde ich der Menschengruppen gewahr, die schnellen Schrittes am anderen Ende in meine Gasse drängen. Ich warte ab. Im Dunkeln sind keine Merkmale auszumachen, die Aufschluss über Herkunft oder Ziel des nicht abreißenden Stroms gäben. Vereinzelt Schreie, zaghafte Gesänge, Kommandorufe. Der Rotor des Helikopters, der über der Szene schwebt und meinem abgestumpften Städter-Sensorium bislang entgangen war, übertönt sie. Ein halbes Dutzend sorgsam zurechtgemachter Mittzwanziger gesellt sich in meine Nähe. Sie trinken Dosenbier und filmen die Szene. Als ich mich ihnen nähere, um ihren Eindruck zu erfragen, erkenne ich die Aufschrift auf dem T-Shirt einer blonden jungen Frau: »Fuck Covid«. Erst jetzt bemerke ich ihre Erregung. »Murderers!«, brüllt einer unvermittelt in Richtung der Warnwesten. Verstört verlasse ich den Ort des Geschehens in Richtung Markthalle. Es ist der erste Tag des neuen Lockdowns in London, da sind Proteste keine Überraschung. In den vergangenen Wochen habe ich eine Handvoll erlebt – eigenartige Umzüge mit äußerst heterogener, zumeist überschaubarer Gefolgschaft. Und doch: das Gebaren dieses Grüppchens, die greifbare Anspannung der Sicherheitsbeamten, die Dunkelheit – all das lässt auf eine neuartige Qualität schließen. Ehe ich entscheiden kann, ob ich meiner Neugier und den Massen folgen sollte, formiert sich inmitten der schmuckbehangenen riesenhaften Weihnachtsbäume und der kunstvoll arrangierten Lichterketten ein etwa zwanzig Mann starker Trupp Polizisten. Auf ein Kommando hin ziehen sie sich zusammen und bewegen sich im Laufschritt Richtung Süden. Einige lose verstreute ältere Herrschaften bedenken sie mit bösen Wünschen. »Hope, Love & Joy!«, wirbt die farbenfrohe Baustellenverkleidung dahinter. Ich fasse mir ein Herz und gehe Richtung Trafalgar Square, wo ich das Ziel des Aufmarschs vermute. Dort angekommen, offenbart sich mir ein surreales Bild: Das hier ist keine Demonstration. Keine Versammlung, keine Bühne, keine Reden. Nur Tausende ziellos umherstreifende Menschen, durchsetzt mit ganzen Hundertschaften von Polizisten, die durch unentwegt heranjagende Einsatzwägen verstärkt werden. Jugendliche kiffen, trinken und tanzen zu Techno aus ihren tragbaren Lautsprecherboxen; gut gekleidete Senioren schlendern vor dem strahlend erleuchteten British Museum entlang; Bärtige brüllen in Megaphone. Neben mir Geschrei: Ein Rudel Polizisten schleift eine Person über den Asphalt und wird sofort zum Ziel der Kameras und üblen Schmähungen. Überhaupt: Überall Kameras und Bildschirme. Diese Szene hier existiert bereits tausendfach, für die Ewigkeit codiert und festgehalten aus zahllosen Blickwinkeln, oftmals unterlegt mit Kommentaren ihrer Beobachter. Die analoge Welt vor meinen Augen ist nur der Kreuzungspunkt der Virtualitäten. Sie strömt Bilder aus, die jenseits in ihrer eigenen, viel mächtigeren Sprache wirken werden. Ich wage mich weiter aus der Deckung. Die Menge verdichtet sich, aus den Seitenstraßen strömt immer neues Volk heran. Die allgegenwärtigen Essenslieferanten manövrieren die Pizzen auf ihren Fahrradträgern in waghalsigem Slalom durch die Menge. Immer wieder stürmen Polizeitrupps und andere Menschen ohne erkennbaren Grund dahin und dorthin. Einige haben sich mit der karikierten Fratze des Guy Fawkes vermummt, dessen Bombenattentat auf die in Westminster versammelten Gewalten heute vor 415 Jahren vereitelt worden war. Der glücklichen Errettung ihres Staates eingedenk, begeht die Nation am 5. November ein alljährlich wiederkehrendes Großereignis: die Bonfire Night. Heute Nacht sollte sich sich diese Tradition an ihrem Ursprung rächen. Jubel, Befehle, Blitzlicht, Blaulicht, Reggae, Sirenen, Masken, Helme, Kostüme, Uniformen, Feuerwerk, Pistolen. Da die Anspannung in Aggression zu kippen droht, begebe ich mich vorsorglich in eine Seitenstraße. Ein gutes Dutzend Beamter stürmt an mir vorbei, ein aufgebrachtes Rudel Menschen hinterher. Wer jagt hier wen? Aus mittlerer Distanz bemerke ich einen Tumult an der nächsten Ecke. Beamte drängen sich in eine lose formierte Rotte Aktivisten. Ich mache Halt. Ohne jede Vorwarnung kreuzt eine Horde Uniformierter vor mir auf und rennt unversehens unter Gebrüll und fuchtelnden Armbewegungen auf mich zu. Ich meine, ein »Fucking go home!« vernommen zu haben. Ihr Angriff gilt der Ansammlung hinter mir, die hörbar Widerstand androht. Die Fronten sind viel zu lose gestaffelt, als dass ich nicht problemlos entwischen könnte. Zurück auf den Trafalgar Square also. Unwillkürlich fahre ich zusammen, als neben mir einige Männer in Warnwesten aus einem Transporter springen. Doch sie bilden nur die Verstärkung für die sporadisch errichtete Suppenküche, die inmitten des Trubels warme Mahlzeiten an die lange Schlange wartender Obdachloser ausgibt. Die Hubschrauber – es sind nun mehrere – haben sich mittlerweile gen Westen entfernt und zeigen das neue Epizentrum an. Auf Umwegen schlendere ich in ihre Richtung. Am Wegesrand der herrschaftlichen Pall Mall steht ein rehäugiges Mädchen mit dunklem Teint und winkt eine nicht minder modisch gekleidete Freundin zu sich herüber. Erst im Zurückblicken entdecke ich das aufwändig verzierte Plakat zu ihren Füßen: »United we stand, divided we fall«. Ehe ich zu einer Ansicht darüber gelangen kann, in welcher Beziehung diese Parole zum Geschehen vor meinen Augen stehen könnte, habe ich im Gefolge berittener Einsatzkräfte den Piccadilly Circus erreicht. Auf den Stufen zum hübschen Anteros-Brunnen, der der selbstlosen Liebe gemahnt, trinken Jugendliche Dosenbier und essen Pizza. Belustigt verfolgen sie das rege Gedränge in den Seitenstraßen. Gangs rollen auf Fahrrädern und Skateboards durchs Getümmel. Die allgemeine Erregung elektrisiert die Luft. Wie eine wilde Büffelherde stürmen plötzlich mehrere Einsatztruppen den Platz, die Menge stiebt johlend in alle Himmelsrichtungen. »Go home!«, brüllt ihnen ein Polizist hinterher, und in seiner Stimme liegt Verzweiflung. Es ist ein gefährliches Spiel: Staat und Bürger testen aneinander ihre Grenzen aus. Und während die Staatsgewalt in immer größerem Aufgebot die Vergeblichkeit ihrer Mühen kennenlernt, vollführen die anderen einen frivolen Tanz über dem Abgrund. Sie weiden sich an der nervösen Gemütslage, die in unkontrollierten Zuckungen, Ballungen und gelegentlichem Überschäumen hervortritt, und erstaunen über ihren Lustgewinn durch Devianz. Die kollektive Gereiztheit, die alles Unterscheidende vergessen macht, entlädt sich im Chaos. Der weitere Verlauf des Abends zieht sich in meiner Erinnerung zu einem hektischen Bilderstrom zusammen. Ein kleines Häuflein Demonstranten versperrt die Kreuzung an der Tottenham Court Road; so weit das Auge reicht, reihen sich die ungeduldig wartenden Doppeldeckerbusse in alle Himmelsrichtungen auf. Auf der Oxford Street duellieren sich ein paar Hartgesottene mit den Sicherheitskräften; wie zum Hohn prangt auf der darüber aufgespannten Leuchttafel in weihnachtlichen Lettern der Schriftzug »Love for our differences«. In Soho nutzt ein Rudel Halbstarker die Gunst der anomischen Stunde, um drei Mädchen in kurzen Kleidern handgreiflich zu bedrängen und in fester Umklammerung umherzuschleppen; mehrere Einsatzwägen rauschen unbeeindruckt vorbei. Ich hoffe, diese Zeilen, die ich teils noch am selben Abend verfasst habe, fangen den Eindruck, den ihr Inhalt auf mich gemacht hat, in groben Zügen ein. In den folgenden Tagen ist Ruhe eingekehrt. Stumm liegen die leeren Plätze da. Verwischt und verschwunden sind die Spuren, die vom Auflodern verloschen geglaubter Flammen zeugen könnten. Alles nur ein urbaner Fiebertraum? Eine atavistische Übersprungsbewegung? Ich will es hoffen, doch nicht meinen. Was sich an dieser Bonfire Night vor der verlogenen Kulisse des Londoner Zentrums aller Übermacht der Ordnungs-Kräfte zum Trotz abspielte, gab den Blick auf einen Schwelbrand im Verborgenen frei. Nur ein Strohfeuer, mag sein. Doch der Zunder harrt nur des nächsten Funkens. Viele Grüße aus London Dein Lucius

Nr. 11, 5. August 2020

Lieber Lucius, die Religion müsse sich dem Staate unterordnen, dachte sich Spinoza plötzlich an einem verregneten Dienstag in Amsterdam, und weiter: was für ein kluger Gedanke, den schreibe ich mir gleich auf. Die Hagia Sophia müsse Museum werden, dachte sich Atatürk dreihundert Jahre später, während er Spinoza las. Doch wer schon nicht denken wolle, müsse wenigstens lesen, sagte Dimitris. Und was passiere, wenn man nicht lesen noch denken wolle, habe man ja letzten Freitag in Istanbul gesehen. »Politiker! Nichts als Heuchler! Also bei den Mandelbäumen links, bei den Ölbäumen rechts halten, bis ihr anstößt.« Wir waren eigentlich nur auf einen Sprung in seinen Laden gekommen, um nach dem Weg zum berühmtesten Weinkeller Kretas zu fragen, doch Dimitris war zum Gespräch aufgelegt und ließ es sich nicht nehmen, uns zuerst seine Ansichten zur Umwidmung der Hagia Sophia darzulegen. Woher er wisse, dass jener ferne Dienstag verregnet gewesen sei, fragte ich unseren gesprächslustigen Verkäufer. Er lachte in die kretische Sonne und sagte: »Wie soll das Wetter sein an holländischen Dienstagen?« Dann zeigte er uns sein Sortiment, und ich sage dir: Dieses kleine Geschäft in einer unscheinbaren Nebengasse Heraklions ist und bleibt der bestsortierte byzantinische Kirchenbedarf, in den ich je unverhofft meinen Fuß setzte. Jeder werde hier fündig, man müsse eben auf die Wünsche der Kunden eingehen, sagte Dimitris und lachte wie es nur alte, sorglose Kaufmänner können. Langsam schreitend führte er uns durch seinen reichen Fundus. Mal verwies er mit bedeutungsvoller Geste auf ein Einzelstück, mal hielt er gar an, um es in der Hand zu wägen und vor unseren Augen für gut zu befinden: messingne Steh- und geschnitzte Wandkreuze, Myronkessel und Alabastren, allerlei Ikonen in allerlei Ausführungen, auf Wunsch handgemalt oder handgeschnitzt, auf Wunsch als Triptychon mit Seitenflügeln, Rauchfasskohlen und Räucherstäbchen, Weihrauch nach antiker Rezeptur und in verschiedenen Sorten, Nelken, Magnolien, Narzissen, fein wie grobkörnig und selbstverständlich von den Mönchen des heiligen Berges Athos unter ständigem Gebet handgeknetet. Die Auswahl an Weihrauchharzen und heiligen Salbölen ist tatsächlich exzellent, und du solltest baldigst vorbeischauen. Noch sind die Preise unerhört niedrig, doch schon bald wird sich hier alles ändern. Man müsse mit dem Geist der Zeit schwimmen, nicht gegen ihn, verriet uns Dimitris, dazu verpflichte ihn allein sein Geschäftssinn, und der irre sich nie. Es sei nicht zu verfehlen, wie gesagt, bei den Mandelbäumen links, bei den Ölbäumen rechts. Vor zwanzig Jahren hätten sie ihm an einem Dienstag wie heute die Türen eingerannt, sagte Dimitris, während seine Hände mit einem Pektoralkreuz spielten, doch heute bestellten vom Athener Erzbischof abwärts alle Geistlichen im Internet. Griechen und Türken hätten sich nie gemocht, erzählte Dimitris. »Zu recht! Türken! Nichts als Heuchler und Gauner.« Er selbst sei rechtgläubig, aus frommsten Verhältnissen, er gehe regelmäßig in die Kirche, beteuerte Dimitris. Es war sein türkischer, bald hundertjähriger Großonkel, der in einer verbotenen thrakischen Liebesnacht zur Zeit des Bevölkerungsaustauschs zwischen einer fortziehenden Türkin und einem einreisenden Griechen entstanden war und mittlerweile enge Beziehungen zur türkischen Regierung unterhielt, von dem er vor allen anderen von der Umwidmung der Hagia Sophia erfahren hatte. Sofort rief Dimitris befreundete, muslimische Händler an und kaufte auf Kredit deren gesamtes Inventar auf. Der Großonkel stellte gleich die notwendigen Verbindungen in die Türkei her, und so kam man bald ins Geschäft. »Der byzantinische Kirchenbedarf ist ein Geschäft der Vergangenheit! Wieso sich dem Geist der Zeit verschließen? Die Welt entwickelt sich weiter. Ein einzelner Mensch wie du und ich hat doch nicht die Kraft, sich gegen eine solche Wucht zu stemmen. Ich darf bitten, mich nicht falsch zu verstehen!« Er hasse die Türken aufrichtig wie ein guter Grieche, doch sei mit den Türken gut Geschäfte machen, gerade mit den erzkonservativen! »Bei den Summen, von denen wir sprechen, werde auch ich tolerant.« Auch den antiken Rasen unter dem ältesten Olivenbaum der Welt im westlichen Kreta habe er sich bereits gesichert; es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis das Kolosseum wieder zum Stadion umgewidmet werde. »Ich traue dieser Welt alles zu. Politiker tun alles, seien sie Italiener oder Türken oder Griechen, um von der Krise abzulenken. Nichts als Heuchler und Gauner und Betrüger! Auch nur den Anschein zu erwecken, ein religiöses Heiligtum für Christen wie Muslime, tausend Jahre die größte Kirche der Christen, fünfhundert Jahre Moschee, hundert Jahre Museum, wieder in eine Moschee umzuwidmen, nur um von Krisen und Katastrophen abzulenken, steche selbst in diesen lächerlichen Zeiten an Lächerlichkeit heraus. Türken! Schon der Anschein! Ein solcher Schritt müsse in der ruhigsten Minute getätigt werden. Ölbäume rechts, Mandelbäume links! Die Geschichte kennt ihr, nicht? Man schrieb das Jahr 1866, und die Osmanen fielen einmal mehr in die hügeligen Hinterländer ein, um den kretischen Widerstand zu brechen, und hinterließen eine blutige Furche des Leidens. »Mit 15.000 Mann standen sie an den Toren des Klosters Arkadi, in dem nur wenige hundert kampftaugliche Männer zurückgeblieben waren und einige Frauen und Kinder, die aus dem geplünderten Umland Zuflucht im Inneren der Klostergemäuer gesucht hatten. In Friedenszeiten reifte im Klosterkeller der süße Messwein der Mönche, doch in diesen Schreckenstagen mussten die Weinfässer dem Schwarzpulver weichen. »Als die Osmanen durch das schwere Klostertor brachen und alle Hoffnung verloren war, verschanzten sich die überlebenden Kreter gemeinsam mit den Frauen und Kindern in der Pulverkammer. Sie verstummten im gemeinsamen Gebet, ihrem letzten, während die Osmanen sich schäumend gegen die Kellertüre stemmten und mit hämmernden Schüssen das alte Holz Loch um Loch zertrümmerten. Sie sahen sich mit angsterfüllten Augen an, Mönche und Krieger, Frauen und Kinder, und waren sich einig, dass es besser sei, als freie Kreter zu sterben als durch Osmanenhand den Meucheltod zu finden. Es fiel der Schuss des mutigsten Kreters ins schwarze Ungewisse, und ein gewaltiges Feuer schoss aus dem berstenden Klosterdach und riss Angreifer und Verteidiger gleichermaßen in die ewige Dunkelheit. Nur ein kleines Mädchen überlebte. Sie überlebte, um die Geschichte der tapferen Männer und Frauen zu Arkadi zu erzählen. Wer sie war, wie und wo sie ihr Leben zubrachte, das sie Gott allein verdankte, wissen wir nicht.« Dimitris war von seiner lebhaften Erzählung erschöpft und zog sich zurück, und wir fuhren bei den Ölbäumen rechts und links bei den Mandelbäumen, bis wir fanden, wonach wir gesucht hatten. Wir standen im Weinkeller und warfen einen Blick in die kretische Sonne, den kein Dach uns versperrte. Bei jedem Griechen, den wir fortan trafen, erwischte ich mich bei der verwegenen Frage, ob ich nicht vielleicht vor dem Nachfahren jenes Mädchens stünde, das überlebte. Simon

Nr. 10, 21. Juli 2020

Lieber Simon, unseren mehr oder weniger sorgenvollen Betrachtungen über das Leben möchte ich einen Schwank aus dem des ganz und gar zufriedenen Herrn M.-R. beisteuern. Vorneweg möchte ich mich bei Herrn M.-R. entschuldigen, dass ich seine Geschichte hier ohne seine Zustimmung zum Besten gebe. Mehr noch, sie ist sozusagen ganz zufällig in meinen Besitz geraten, als ich jüngst völlig absichtslos einen sonnigen Nachmittag in einer ausgesprochen angenehmen italienischen Bar in Berlin-Charlottenburg verbrachte. Herr M.-R. nämlich, der allein schon durch seine Anwesenheit an jenem erlesenen Ort Geschmack bewies, mehr noch aber durch seinen hellen Borsalino mit dunklem Hutband, das sandfarbene, leicht zerknitterte Jackett und sein verschmitztes Lächeln, gab sich an jenem Nachmittag ganz seiner Erinnerung hin. Seine erst zögerlichen, dann immer lustvolleren Schritte zurück auf seinem langen Lebenswege standen unter behutsamer Leitung eines zurückhaltenden, namenlosen Gegenübers, das nie von der höflichen Anrede wich und sich kunstvoll darauf beschränkte, dem wie entrückt Schwelgenden nur in entscheidenden Momenten Anlass zu geben, in seiner Rede fortzufahren. Ich, der ich schweigsam und unbeteiligt am Nebentisch saß, will es ihm gleichtun und seinem Bericht, dessen Moral mein übergriffiges Lauschen entschuldigen soll, nichts hinzufügen, sondern ihn lediglich meiner eigenen Erinnerung getreu wiedergeben. Herr M.-R. also hebt zur Klage an über die Verstocktheit der heutigen Jugend im Allgemeinen und seines einzigen Sohnes Peter im Speziellen, was allein nicht weiter bemerkenswert wäre, hätte er diesem vermeintlichen oder tatsächlichen Missstand nicht umgehend wie zum Beweis seine eigene Biographie vorgehalten. „Papi”, habe ihn sein alleinstehender Sohn kürzlich gefragt, „Papi, wie has’ Du datt denn eijentlisch jemacht, datt Du vierzehn Mal verlobt wars’?” Diese stolzen vierzehn Verlobungen seien nicht alle wohlerwogen gewesen, und längst nicht jede habe zur Ehe geführt, erzählt der fröhliche Alte, wobei die beschwingte Satzmelodie zunehmend seine Herkunft aus dem Rheinischen erkennen lässt. Andersherum sei sein einziges, ihm treu verbundenes Kind auch aus keiner dieser beglaubigten Affären hervorgegangen: „Und dann kam die Baroness Vicari. Mensch, ich sach' et Dir, wirklisch reizend, die Dame, aber sehr eifersüschtisch… In der Zeit ist ja denn auch der Peter entstanden. Also nüscht mit der Baroness natürlisch! Datt war ne Schweizerin…” Insgesamt gestalte sich das Zusammenleben in der Verlobung am angenehmsten, weil die Liebe mit dem Pfand eines gegenseitigen Versprechens belegt sei, das die Zeit wie von selbst auf- oder einlöse. Die Verlobungsfeste nicht zu vergessen, schöner als jede Hochzeit, und jedes Mal in einem anderen Weltteil! Ein Vermögen habe er nie anhäufen wollen. Mehr als essen und trinken könne man ja nicht, wiederholt er mehrmals. Und Zigarren rauchen, wird er später ergänzen. An dieser Stelle mischt sich Luciano vom Nebentisch ins Gespräch, einem dunklen Italiener, der bis dahin damit befasst gewesen war, in erregten spanischen Telefongesprächen dem ganzen lateinamerikanischen Kontinent die düstersten Prophezeiungen zu machen. Sie erzielen jedoch keine Einigung über den besten Feinkostladen der Gegend. Heute lebe er wieder allein. Abends, da sitze er nun auf dem Westbalkon seiner Dachgeschosswohnung. Sein Nachbar, der früher ein gefragter Barmann gewesen sei, reiche ihm dann Caipirinhas über die Brüstung, das Bett sei ja zum Glück nicht weit. Mehrmals in der Woche teilten sie sich zuvor das Abendessen, denn sein Nachbar verstehe sich auch vortrefflich aufs Kochen. In diesem Alter, da sei man sich selbst mehr als genug. Ob er seine Lebensgeschichte nicht niederschreiben, zu Protokoll geben, aufzeichnen wolle?, fragt Herrn M.-R. sein aufmerksamer Zuhörer, nachdem der gemeinsam beschrittene Weg von Hongkong durch den Maghreb und in die brasilianische Aristokratie geführt und nach mehreren Stunden endlich in einer Betrachtung über den Wert der Gesundheit im Alter seinen vorläufigen Abschluss gefunden hat. Das wollten viele wissen, entgegnet der Gefragte bescheiden, zuletzt auch ein renommierter Verleger – allein: wozu? Am Ende werde er noch berühmt, und dann ließe es sich ja auch nicht mehr leben. „Onorevole“, verabschiedet ihn der alte Giuseppe hinter der Theke und lüftet seinen gedachten Hut. „Tschö“, murmelt dieser, und stapft von dannen. Ich habe keinen Zweifel, dass Herrn M.-R. meine erschlichene Mitwisserschaft bewusst, wenn nicht schmeichelhaft war. Doch nicht nur seine Geschichte war glaubhaft, zumal sie regelmäßig im Nicken seines Zuhörers und in den zahllosen biographischen Kreuzungspunkten der beiden Bestätigung fand; sein freiwilliger Rückzug aus der Welt auf sein Inneres war es ebenso – im Rückblick auf ein rast- und ruheloses, frei mäandrierendes Leben, wohlgemerkt. Herr M.-R. hatte sichtlich seinen Frieden damit geschlossen, sein umtriebiges Dasein einem geruhsamen Ende entgegenzuführen. Dass es mit den Damen eine heikle Sache sei, darin würde er Dir übrigens Recht geben. Nächste Woche werde ich der Bar um dieselbe Stunde einen Besuch abstatten. Wenn Du möchtest, berichte ich. Lucius

Nr. 9, 8. Juli 2020

Lieber Lucius, die Sorglosigkeit, sie lässt mir keine Ruhe mehr. Dein Brief ist eine einzige große Frage an die Welt. Ein Glück, dachte ich, ich kenne jene, die ihr vielleicht furchtlos in die Augen schauen könnte. So eilte ich nach Griechenland und fand die Sorglosigkeit vor ihrer Bäckerei sitzend und die Wellen zählend, als ich sie unterbrach und ihr deinen Brief reichte. Vielleicht war es, weil sie kein Wort Deutsch sprach. Vielleicht aber doch, weil sie sich aus deinen Versen schlicht keinen Reim machen konnte. Woher dieses Verlangen, fragte sie mich, immer neue Wege zu gehen? Du erinnertest sie an ihre verhasste Schwester, die Sorge, die auch denselben Unfug in aller Welt verbreite. Gerade in der Wiederholung sei das Heil zu finden, sagte sie und verwies stumm auf die Wellen. Ist es nicht faszinierend, dass die Menschen, wo sie uns doch heute ständig versichern, nur mehr ihren eigenen Weg zu gehen, ähnlicher und austauschbarer werden als je zuvor, fragte mich die Sorglosigkeit. Aber wieso sollten wir überhaupt dazu verdammt sein, unseren eigenen Weg nur im neuen Weg zu finden, uns also nur über unsere Rolle in der Welt zu denken. Denn selbst der Weg, der von allen anderen wegführt, erhält in diesem Geiste seinen Wert nur in der wachsenden Entfernung von anderen Wegen, nicht etwa durch seine schöne Aussicht oder seine Trittfestigkeit. Man soll alleine aufrecht stehen, ohne von anderen aufrecht gehalten zu werden, meinte Marc Aurel einmal dazu, wie mir die Sorglosigkeit versicherte. Wieso sein Missfallen gegenüber der Wiederholung, fragte mich die Sorglosigkeit über dich. Wisse er nicht, was Marc Aurel über die Zeit Vespasians geschrieben, der zweihundert Jahre vor ihm das Römische Reich regierte: Du wirst alles finden wie jetzt: Menschen, die freien, die Kinder erziehen, Kranke und Sterbende, Kriegsleute und Festfeiernde, Handeltreibende, Ackerbauer, Schmeichler, Anmaßende, Argwöhnische, Gottlose, solche, die den Tod dieses oder jenes herbeiwünschen, über die Gegenwart murren, verliebt sind, Schätze sammeln, Konsulate, Königskronen begehren. Zu Marc Aurels Zeit war es ausgemachte Wahrheit, dass es nichts Neues in der Welt gebe, sondern dass alles wiederkehre. Die Sorglosigkeit und ich waren einer Meinung, dass gerade darin ihr Heil und Trost liege. Wir mögen uns dem ewigen Kreislauf mithilfe allerlei technischer Spielereien und Verblendungen vorerst entkommen glauben, er wird uns endlich doch noch einholen: Wie wir es heute über Marc Aurels Zeiten sagen müssen, wie er es über jene Vespasian sagte, so wird man auch über unsere einander versichern: Du wirst alles finden wie jetzt. Ob ich die dieswöchige ZEIT schon gelesen habe, fragte mich die Sorglosigkeit. Als ich verneinte, kramte sie in ihrer Tasche einen Artikel über die Angeberei hervor und begann zu lesen. Du musst wissen, die Sorglosigkeit ist eine vorzügliche Vorleserin: Stille Bescheidenheit mag sympathisch sein – gesellschaftlich führt sie nicht weiter. Im Angeben hingegen steckt ein tieferer Sinn. Psychologinnen und Soziologen, Evolutionsbiologinnen und Ökonomen sind sich bei diesem Thema fast alle einig: ohne Prahlerei kein Wirtschaftswachstum, kein Fortschritt, keine Hochkultur. Angeber halten den Motor des ‘höher, schneller, besser’ am Heulen und treiben damit die Zivilisation voran. Zur Initialzündung unserer heutigen Kultur ist es gekommen, als sich die Kreativität beim Angeben schrittweise erhöhte. Wie du dir vorstellen kannst, lachten die Sorglosigkeit und ich herzlich über diese geistlose Makulatur, und wir waren derselben Meinung, selten in deutschen Zeitungen eine dümmlichere Aneinanderreihung hohler Worte gelesen zu haben. Ob ich die antiken Schriften kenne, in denen uns Worte aus fremden Zeiten entgegen lachen, deren Humor wir nicht verstehen, fragte mich die Sorglosigkeit. Tugend sei so ein Wort, das Gute, das Gerechte ein zweites, ein drittes. An ihrer Seite fühle man sich wie bei großem Gelächter, dessen auslösenden Witz man nicht gehört hatte. Es ist uns beim Lesen wohl bewusst, dass all diese Worte für ihre antiken Ohren einen vollen Klang hatten, nur uns wollen sie heute nichts mehr verraten. Ich denke, ich verstand, was die Sorglosigkeit da sagte, und sie fügte hinzu, dasselbe Schicksal werde auch unsere Wörter vom Fortschritt und der Wissenschaft und dem Wachstum ereilen, die heute noch Weltpolitik und Lebenswege gleichermaßen ohne den letzten Zweifel begründen und beenden, aber schon in wenigen Jahrhunderten unsere Nachfahren vor die Frage werfen werden, wie solch vage und lose Worte eine solche Wucht entfalten konnten. Eine Sprache habest du außer acht gelassen, sagte mir die Sorglosigkeit über dich, eine Sprache, die bald einatmen, bald ausatmen und sich also wiederholen müsse, um sich Leben einzuhauchen: die Musik. Es gebe keine Musik ohne Wiederholung. Sie mache sich ernsthafte Sorgen um dich, sagte mir die Sorglosigkeit, und ich stimmte ihr zu. Wie wir da so saßen, die Sorglosigkeit und ich, und gemeinsam die Wellen zählten, fragte sie plötzlich: «Hast du eigentlich den Thomas Bernhard gelesen?» Da sagte ich: «Na, selbstverständlich.» Es war kein Zufall, dass die Sorglosigkeit an ihn gedacht hatte, denn der Mann war, wie du weißt, eigentlich ein verhinderter Sänger, dem die Luft ausging und an den Schreibtisch gefesselt blieb. Wir kamen also überein, dass du weniger Zeit mit der Sorge und mehr mit dem Bernhard verbringen müsstest. Seit ich ihn gelesen habe, habe ich jede Angst vor der Wiederholung verloren. Seine Schriften gewinnen ihre Magie aus dem immer gleichen Zaubertrick. Erst wird ein viel zu langer Satz in die Welt gesetzt. Dann werden seine Einzelteile variiert und neu verflochten und neu verbunden und in verschiedenen Variationen wiederholt, mal über eine Seite, mal über einen ganzen Band. Was langweilig klingt, entwickelt sich beim Lesen zur melodischen Trance, die einen Seite um Seite trägt, so wie vor uns Welle um Welle zu einem einzigen herrlichen Rauschen zerrannen. Während ich also mit der Sorglosigkeit da so saß und die Wellen zählte, wir uns mal über den Bernhard, mal über die Sorge, mal über dich unterhielten, mal mehr über dich und den Bernhard, mal mehr über die Sorge und dich, nie aber über die Sorge und den Bernhard, sagte mir die Sorglosigkeit, es sei an der Zeit für sie, nach den Bäckereien zu sehen. Wir verabschiedeten uns, und sie ging ihrer Wege. Doch ich blieb sitzen. Lucius, die Sorglosigkeit, sie ließ mir keine Ruhe mehr. Ich musste dieselbe Sorglosigkeit gewinnen, vielleicht den alten Bäcker ablösen, die neue Sorglosigkeit werden! Eine Woche blieb ich an Ort und Stelle sitzen und wartete, was passieren würde. Am ersten Tag rührte sich nicht viel, ein einsamer Blick hie und da. Am zweiten kam der erste Gruß, bald der zweite. Am dritten blieben die ersten stehen, um zu plaudern. Am vierten kannte man mich, man tauschte Höflichkeiten über Frau und Kinder aus. Am fünften fragte man mich nach der Politik, und ich antwortete gerne und ausführlich. Am sechsten hielt ich eine Rede vor der Gemeinde, die sich um mich versammelt hatte; ich weiß nicht mehr, worüber. Doch muss sie mitreißend gewesen sein, denn am siebten Tage trommelte man alle zusammen und wählte mich zum Bürgermeister. Als Bürgermeister dieser stolzen Gemeinde fallen große Pflichten in meine Hände, deren erste natürlich die Belustigung meiner Bürger ist. Wie jeder Politiker war auch ich ohne Ahnung, aber mit großen Worten ins Amt gewählt worden. Ein Glück, dass mich mein Gespräch mit der Sorglosigkeit bestens auf meine Aufgaben vorbereitet hatte. Ich nahm mir Montesquieus Anspruch zu Herzen – ist es nicht beeindruckend, Menschen zu all den schwierigen, anstrengenden Taten verpflichten zu können, ohne ihnen dafür einen anderen Lohn zu verheißen als das Ansehen – und erfand einmal eine Reihe von Orden und Verdienstkreuzen mit albernen Namen. Dann dichtete ich in der Kaffeepause eine kleine Hymne, die ab sofort beim kleinsten Anlass gespielt und eifrig mitgesungen wurde. In der örtlichen Schule musste sich natürlich alles ändern. Die Schüler werden seither zu braven, strebsamen Kleingärtnern und Angebern erzogen. Es mag für sie nicht ins sorgenlose Leben führen, aber doch führt es zu Fortschritt und Wirtschaftswachstum, wie mir alle Wissenschaftler einhellig bestätigten. Ich führte Jahrgänge, Klassen und Noten ein, Diplome und Abschlüsse, damit, wenn die Schüler schon ihre Kindheit und Jugend versaßen und auf der Stelle traten, ihnen doch wenigstens die Einbildung vergönnt sei, voranzukommen und fortzuschreiten. Nach diesem großen Erfolg im Schulwesen, werde ich mich nach demselben Muster bald auch den Dienstgraden, Karriereleitern und Universitäten widmen. Auch die Gespräche in der Amtsstube gehen mir leicht von der Hand. Sein ganz persönliches Repertoire der Belanglosigkeiten anzulegen ist, wie du weißt, erste, zweite und letzte Pflicht jedes Politikers. So hatte ich mir als Bürgermeister, spät aber doch, ein beachtliches Repertoire zusammengeklaubt und bespiele diese Klaviatur der leeren Tasten mittlerweile wie ein junger Liszt. Nicht ist es also weiter tragisch, dass umso mehr Zwiegespräche in der bürgermeisterlichen Amtsstube zu Konzerten für zwei Klaviere ausuferten, in denen beide ihre Repertoires pflegten bis die Finger krampften, sind solche doch beizeiten die freundlichsten Gespräche. Wer am wenigsten sagt und am meisten redet, kommt am weitesten. Die ständige Angst, ein falsches Wort zu sagen, das den Ämterwettlauf jäh und verfrüht beenden würde, zwingt ja gerade den Politiker, aber in Wahrheit den Menschen überhaupt, zu denselben Wortbausteinen wieder um wieder zurückzukehren und dieselbe Rede hundertfach zu halten. So wie die Zeitungen im Glauben, eine neue Ausgabe zu drucken, dieselbe Zeitung hundertfach drucken, die Schauspieler dieselbe Rolle hundertfach spielen, die Schriftsteller dasselbe Stück hundertfach schreiben, habe ich im Glauben, immer eine neue Rede vor der Dorfgemeinde zu halten, in Wahrheit dieselbe Rede hundertfach gehalten. Dieselben Wortgemäuer aus denselben Wortbausteinen habe ich wieder um wieder vor der Dorfgemeinde aufgezogen, immerzu bedacht, möglichst fugenlos zu sprechen, damit sich kein Bürger daran anstöße. Ich muss dir zugeben, das Bürgermeisteramt hat mich mit der Sorge wieder versöhnt, obwohl ich mich doch eigentlich stets zur Sorglosigkeit hingezogen gefühlt hatte. Immer öfter kam die Sorge zu mir in die Amtsstube. Als sie heute morgen auf meinem Schoß saß, platzte plötzlich die Sorglosigkeit aufgewühlt und aufgebracht herein. Wie sie uns da so vertraut sitzen sah, die Sorge und mich, schüttelte sie nur wortlos den Kopf, schloss die Türe, und wir wussten beide, so bald würde ich diesen Betrug nicht wieder gutmachen können. Es ist, wie du weißt, nicht immer leicht mit den Damen. Simon

Nr. 8, 29. Juni 2020

Lieber Simon, ich will es nicht verhehlen, ich beneide Deinen griechischen Bäckermeister. Wäre ich imstande, beim Blick auf das Meer alle kleinen Obsessionen fahren zu lassen? Mein Innenleben gewissermaßen zu ent-sorgen, mich selbst und mein untätiges Sitzen aus keiner Außenperspektive zu beäugen, keinerlei in die Zeit gerichtetes Wollen zu empfinden? Nein, leider. Ich habe die mich umgebende Welt längst zu sehr verinnerlicht, will sagen: das ehedem außen Liegende mir zu eigen gemacht. Bis zum Rand sind wir angefüllt mit dem, was uns umgibt. Aus demselben Grunde setzen alle denkbaren innerweltlichen Befreiungsschläge einen radikalen Lebenswandel voraus: Auswandern, mit allen Freunden brechen, konvertieren – nur indem wir unsere Außenwelt umgestalten, kann sich unser Innerstes spiegelbildlich wandeln. Ein Neuanfang aus einem bloßen Entschluss heraus ist dagegen unmöglich, jeder Versuch muss in den Tiefen unserer zähflüssigen Zweifel versumpfen. Nur fragt sich heute, worin ein solcher Akt überhaupt bestehen sollte. Wohin ausbrechen? Was wagen? Welche Grenze queren, in einer Welt, in der alles inbegriffen ist? Die Bestimmung des Selbst befindet sich heute in einer prekären Lage, die, wie mir scheint, viel gemein hat mit einem Kunstgriff aus der Rhetorik. Die bewährteste mir bekannte Argumentationstechnik ist die Vorwegnahme (und wenn es noch kein anderer in aller Förmlichkeit getan hat, will ich ihr hiermit diesen Namen verleihen). Den Sokratischen Dialogen war sie bereits bestens bekannt. So zählt der aufbrausende Sophist Thrasymachos im ersten Buch der Politeia, ehe er den verdutzten Sokrates die Frage nach der Gerechtigkeit weiter erörtern lässt, einen ganzen Schwall möglicher Definitionen auf, die er für vorhersehbar und daher indiskutabel hält. Das Prinzip ist einfach: Um eine Aussage in ihrer Wirkung zu entkräften, stellt man sie als Erster fest. Es ist ein semantisches Paradox, doch birgt es unerhörtes zerstörerisches Potential. Indem man gleich zu Beginn ein Gegenargument bestätigt, entschärft man es. Und sowie es in der Welt ist, ist es vernichtet. Der zugrundeliegende Mechanismus ist der des Vorgreifens: Was noch im Raum des Möglichen, des Ungesagten liegt, wird ins Diesseits geholt, hingenommen – und augenblicklich nichtig. Denn das bekannte Argument ist stets schlaff und abgegriffen. Nur das neue Argument entlädt eine ungeheure Wucht in dem Moment, in dem es ausgesprochen wird und so die Grenze zwischen dem Noch-nicht und dem Nicht-mehr übertritt. Es trifft dann auf das bereits Gesagte und bringt es stoßartig in eine neue Ordnung. Greift man dem vor, erlischt die Wirkung und wird der (tatsächlich oder vorgeblich) unbeschadeten eigenen Position einverleibt. Mir schwant, dass der Fall mit unserer Selbstbestimmung parallel liegt: Alle Möglichkeiten sind uns vorweggenommen. Jeder Lebenspfad ist beschritten, jede Existenz verwirklicht. Welche Antwort vermöchten wir uns zu geben auf die ewige Tanten-Frage „Und was willst Du mal werden?“, die nicht schon längst im Raum des Gesagten, Getanen, Gelebten läge? Mehr noch: Welche solche Antwort wären wir überhaupt zu denken fähig? Sicher, das Denkbare mag zu jeder Zeit mehr oder minder mit dem Machbaren synchronisiert sein. Aber der flache Hedonismus, die latente Depression in der Kultur, die zur Schau gestellte private Suche nach Sinn und Erfüllung – sie alle sind doch wenigstens Anzeichen für ein Schweben im endlosen metaphysischen Vakuum, in dem die entlegenste Möglichkeit realisiert und die letzte Grenze aufgelöst ist. Doch Sinn kann sich nur im Hinblick auf eine Grenze definieren; der Sinn des Lebens zum Beispiel nur in Abhängigkeit vom Tod, der Sinn eines Wortes nach seiner bestimmbaren, limitierten Bedeutung. Die vergangenen Jahrzehnte aber brachten Entgrenzungen auf sämtlichen Ebenen mit sich: räumlich durch die Globalisierung, privat durch die kulturelle Liberalisierung, religiös, sexuell, moralisch, in der Kunst. Selbst die zeitliche Begrenzung des Menschen will die Medizin im Verbund mit dem Wirtschaftszweig der Risikominderung wenigstens kontrollieren; gleichwohl wird sie uns als ultimative Grenze unseres Lebens bis auf Weiteres erhalten bleiben, und gerade daraus ergibt sich ja das vorliegende Problem: Solange wir zeitliche Wesen sind, sind wir zur Suche nach (Zeit-)Erfüllung verdammt, aber derzeit orientierungslos in Ermangelung irgendeines Glaubens- oder Handlungsrahmens, der eine Selbstbestimmung im Verhältnis zu seinen Außengrenzen erlaubte. So kommt es, dass sich im Tun und Sprechen – dem eigenen wie dem anderer – stets das bereits Getane und Gesagte zu wiederholen scheint. Daher rührt auch das vorschnelle Nicken, auf das ein jeder von uns stößt, der einem Zeitgenossen von seinen Erfahrungen oder Plänen erzählt. Jeder weiß von jemandem, der dieselbe Reise unternommen, dieselbe Krise durchlebt, denselben schrägen Musikgeschmack hat. Was im grenzenlosen Raum des Vorweggenommenen liegt, ist uns vorbewusst, das heißt: Es birgt kein Potential, das sich durch den Eintritt in das Sein entfalten ließe; denn es befindet sich längst unter all den anderen bekannten Formen des Gewesenen. Doch um unser Selbst gegen das Gewesene und das uns Umgebende abzugrenzen und damit der zentralen Anforderung der autonomen Individualität gerecht zu werden, bedürfte es irgendeines unterscheidenden Merkmals. Die Schwierigkeit heute besteht darin, dass uns, wonach wir auch greifen, zwischen den Händen zerrinnt, weil es uns schon vorweggenommen und demnach vernichtet ist. Umso schwerer lastet der immerwährende Anspruch, etwas Kreatives, Originelles, Neues zu schaffen, wo doch alles vorbewusst, also ins Innere geholt ist. Die benannte Parallelität legt zudem nahe, dass dieser Anspruch ein unvermeidlicher ist: Denn insoweit das Sprechen bezweckt, etwas Neues zu sagen, um nicht sinnlos zu sein, so muss die autonome Existenz darauf bedacht sein, etwas Neues zu leben, um als solche zu gelten. Ein Leben nur aus dem Gewesenen käme einem Text gleich, der ausschließlich bereits Geschriebenes zusammenfügt und sich dennoch für eigenständig erklärt. Umso nötiger haben wir es auch, uns unablässig mit hohlen Bekenntnissen unserer Individualität zu vergewissern: Wir sind etwas Besonderes, gehen unseren eigenen Weg, sind gut so, wie wir sind. In Wahrheit sind wir außerstande, eine solche Individualität jemals (dem zeitgenössischen Anspruch gemäß) durch etwas allein uns zu Eigenes zu rechtfertigen. Vielleicht lassen sich die gegenwärtigen regressiven Tendenzen in der Gesellschaft auch als Versuche lesen, Grenzen (wieder) zu errichten, von denen her sich ein legitimer Sinn überhaupt definieren lässt. Die Grenze der Nation zum Beispiel, um die Zugehörigkeit zu einer Kultur mit irgendeiner Bedeutung zu versehen, die sie im wahllosen Neben- und Miteinander aller Menschen längst verloren hat. Oder die Grenzen partikularer Gruppenidentitäten, um sich überhaupt auf ein Kollektiv zu berufen, von dem aus ein politisches Anliegen formuliert werden kann – schließlich müssen politische Anliegen kollektive sein. Verlauf und Durchlässigkeit dieser neuen Grenzen stehen auf einem anderen Blatt. Genauso bleibt offen, inwieweit genuin neue Möglichkeiten entstehen oder alte ausgeschlossen werden, um unseren Spielraum wieder neu einzuhegen und dadurch ein Innen vom Außen zu scheiden. Der gegenwärtige unbestimmte Schwebe- wird aber wohl kein Dauerzustand sein. Mit dieser dunklen Ahnung wünsche ich heitere Sommertage, Dein Lucius

Nr. 7, 22. Juni 2020

Lieber Lucius, wie stellst du sie dir vor, die Sorge, wenn du an sie denkst? Als die Sorge einen Fluss überquerte, erblickte sie lehmigen Schlamm. In Gedanken versunken nahm sie ihn in die Hand und begann, einen Menschen zu formen. Während sie im Stillen überlegte, was sie da gemacht hatte, kam Jupiter hinzu. Die Sorge bat ihn, der Gestalt Leben zu geben, und Jupiter gewährte es ihr bereitwillig. So sorglos wie die Sorge möcht’ man sein. In Gedanken versunken und gelangweilt, weil die Nägel schon hundert Mal gefeilt waren und ihr Haar hundert Mal verflochten, weil sie alle Wellen und Sterne gezählt hatte, weil seit tausend Jahren nichts passiert war und damit endlich etwas geschehe, nahm sie den Schlamm und formte, warum auch nicht, den Menschen. Wer unendlich lange lebt, kann sich Langeweile leisten. Wir kennen diese anteillosen Götter aus den homerischen Epen. Ihnen waren wir nicht mehr als ahnungslose Schauspieler im Welttheater, in dem die Götter ihre kindischen Feind- und Liebschaften auslebten. Schauspieler, die sie Menschen nannten, aber kaum einen beim Namen kannten, und wenn doch, ihn bald vergaßen. Darin liegt die bewundernswerte Selbstherabwürdigung der Griechen, ein Zug ins Lächerliche allen weltlichen Treibens und Schaffens, jeder noch größeren Tat, wie Achilles sie in der Unterwelt nennt. Sie konnten, so drückte es Kafka aus, das entscheidend Göttliche gar nicht weit genug von sich entfernt denken, die ganze Götterwelt war nur ein Mittel, das Entscheidende sich vom irdischen Leib zu halten, Luft zum menschlichen Atem zu haben. Eine vollends andere Überlebenspolitik als unsere. Dem Menschen als zufälliger Laune eines gelangweilten Göttergeschöpfs wird unsereiner immer als Fremder gegenübertreten. Wir erzählen diese Geschichte aus gutem Grunde anders, ob Kirchengänger oder nicht: Unser Gott ist barmherzig, nicht anteillos, er sorgt sich um uns, wird gar Mensch für uns. Vielleicht versteht man in diesem Lichte erst den verführerischen Reiz der christlichen Tradition. Und unser Mensch ist Ebenbild seines Schöpfers. Ein besorgniserregender Unterschied, der Hans Blumenberg, jenen Mann, der nicht mehr in Sätzen, sondern nur mehr Rätseln sprechen kann, zu dem mutigen Verdacht hinriss, der Dichter habe verschwiegen, warum die Sorge den lehmigen Schlamm nicht etwa entlang des Flusses oder im Wald oder in den Bergen finde. Die Sorge finde den lehmigen Schlamm jenseits des Flusses, weil sie erst im Wasser ihr Spiegelbild sehen habe müssen, um zu wissen, nach welchem Bild den Menschen formen. Der Mensch gehöre zu Lebzeiten nicht ihr, weil sie ihn formte, sondern weil sie ihn nach ihrem Bilde formte. Wer allein aus der Natur des menschlichen Lebens, dessen entscheidendes Merkmal das Wissen um sein Ende ist, die Sorge zur gebotenen Gemütslage erklärt, kann jede Sorglosigkeit nur als Flucht vor der Sorge verstehen. So auch Blaise Pascal: Da die Menschen kein Heilmittel entdecken konnten gegen den Tod, das Elend, die Unwissenheit, so sind sie darauf verfallen, um sich glücklich zu machen, nicht daran zu denken. Und nie war es leichter als heute, dem Gedanken und der Langeweile immer einen Schritt voraus zu sein. Goethes Sorge stelle ich mir nicht als verträumtes Mädchen vor, sondern als herrschsüchtige Maid mit dem verlässlich erfüllten Wunsch nach Aufmerksamkeit. Hast die Sorge nie gekannt? ist keine Frage. Es ist der verblüffte Ruf einer allzu Verwöhnten. SORGE Hast du die Sorge nie gekannt? FAUST Ich bin nur durch die Welt gerannt; Ein jed' Gelüst ergriff ich bei den Haaren, Was nicht genügte, ließ ich fahren, Was mir entwischte, ließ ich ziehn. Die Sorge stattet nicht zufällig an seinem letzten Tag auf Erden gerade ihm Besuch ab, der sie an keinem vorhergegangen Tage durch die Tür ließ. Doch wäre es besser gewesen, der Sorge nicht den Weg zu versperren? Wenn ein Leben lang die Sorge abends neben dir einschläft, du morgens neben ihr aufwachst, musst du dich doch einmal an sie gewöhnen, nicht? Nein, mit der Sorge will das Lager nicht geteilt werden. Die Sorge ist, wie du richtig sagst, die vergebliche Hoffnung, eines Tages ausgesorgt zu haben. So zieht der Mensch um sich den eigenen Kreisschluss zu Ende. Denn die Sorge durch genügend Sorge zu bezwingen, ist so vielversprechend, wie die Raffgier durch einen ordentlichen Reibach, die Ruhmsucht durch den Ruhm zu stillen. Das Heilmittel ist das Gift, dessen Heilmittel das Gift bleibt, und so zerrinnt das Leben in einen einzigen sorgenvollen Rausch. Vielleicht war es ein Fehler, Fragen zu stellen, die man nicht beantworten, noch vergessen kann. Vielleicht sind aber auch unsere Prämissen falsch. Vielleicht ist nicht jede Sorglosigkeit bloß Flucht vor der Sorge. Dich wird nicht weiter verwundern, dass ich die Sorglosigkeit, als ich sie kennenlernte, nicht in unseren Breiten antraf, sondern auf einer griechischen Insel. Sie erschien mir, anders als die Cura dieser oder jener Fabel, nicht als holde Maid, sondern in Gestalt eines alten, griechischen Bäckers, inselweit bekannt und geschätzt für seine süßen Köstlichkeiten. Man empfahl ihn mir in meiner Unterkunft, doch müsse ich früh aufbrechen. Jeden Tag bäckt die Sorglosigkeit hundert Stück ihrer griechischen Mehlspeise, öffnet ihr Lokal zur siebten Stunde, und bevor die achte schlägt, sind alle hundert Stück verkauft. Dann setzt sie sich vor ihre Backstube und schaut in die Wellen, den lieben langen Tag, nur um jedem hoffnungsvollen Käufer, der zu spät nach ihren Bäckereien fragt, gelassen zu versichern, es gebe heute keine mehr. Wäre sie Deutsche, sie backte jeden Tag nicht hundert, sondern tausend Stück, sperrte nicht vor Sonnenuntergang, eröffnete eine zweite und dritte Filiale auf Naxos und Mykonos. Aber sie ist Griechin, verkauft ihre hundert Stück, zählt tagein tagaus die Wellen und ist selig. Wenn ich ihn wiedersehen sollte, frage ich den Bäcker, ob er die Sorge je gekannt. Liebe Grüße Simon

Nr. 6, 14. Juni 2020

Lieber Simon, wir werfen wahrlich viele Anker, die uns in der Welt halten und deren Stricke uns allseitig an unseren angestammten Platz binden. Uns treibt die Angst, fortzutreiben. Oder besser: die Sorge, eine ungewisse Zukunft könnte unser Schiffchen in ein nicht kartiertes, reißendes Gewässer fortreißen. Dein Freund Faust ist sich dessen nur allzu bewusst: Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen, Dort wirket sie geheime Schmerzen. […] Sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen, Als Feuer, Wasser, Dolch und Gift; Du bebst vor allem, was nicht trifft, Und was du nie verlierst, das musst stets beweinen. Allein, es nützt ihm nichts. In der Tragödie zweitem Teil kriecht die Sorge, Schwester des Todes, durchs Schlüsselloch in Fausts herrschaftliche Gemächer und stellt ihn zur Rede. SORGE Hast du die Sorge nie gekannt? FAUST Ich bin nur durch die Welt gerannt. Spricht’s, und muss doch einsehen, sein Leben unbefriedigt jeden Augenblick geführt zu haben. Denn die Sorge ist ein garstiges Weib: Wen ich einmal mir besitze, Dem ist alle Welt nichts nütze. […] Ist der Zukunft nur gewärtig, Und so wird er niemals fertig. Faust erblindet, ist völlig von Sinnen und stirbt wenig später einen unwürdigen Tod. Als Vorlage für Goethes personifizierte Sorge diente Hyginus’ Fabel von der Cura, die jenseits eines unbenannten Flusses ein Stück tonhaltiger Erde aufhebt. Gedankenverloren formt sie den Klumpen, dem Gott, Jupiter, auf ihr Bitten hin Leben einhaucht. (Etwaige Ansprüche gegen das Buch Genesis wegen schamlosen Raubs geistigen Eigentums dürften verjährt sein.) Es entbrennt ein Streit um den rechtmäßigen Namen des neuartigen Wesens, den die Sorge, Gott und die Erde gleichermaßen für sich reklamieren. Die Zeit, in Gestalt des Saturn, wird herbeigerufen, den Disput zu schlichten. Sie entscheidet: Nach seinem Tod gehöre der Geist Jupiter, der Körper falle indes der Erde zu. Weil die Sorge es aber zuerst gebildet habe, solle sie es seinen Lebtag besitzen (Cura enim quia prima finxit, teneat quamdiu vixerit). Bei Herder lautet Saturns Schiedsspruch: Dir, seiner Mutter, o Sorge Wird es im Leben geschenkt. Du wirst, so lang’ es nur athmet, Es nie verlassen, Dein Kind. Dir ähnlich, wird es von Tage Zu Tage sich mühen ins Grab. Des Schicksals Spruch ist erfüllet, Und Mensch heißt dieses Geschöpf; Im Leben gehört es der Sorge, Der Erd’ im Sterben und Gott. Die Sorge erweist sich als die unsichtbare Kraft, die unser Leben stumm durchwaltet. In unserer Lebensplanung tritt sie als das unerreichbare Ideal auf, eines fernen Tages aus-gesorgt zu haben. Überhaupt ergibt sich ja die Notwendigkeit eines Plans erst aus unserem Bemühen, bei der Verwirklichung unserer Absichten auf alle Eventualitäten der Zukunft eingerichtet zu sein. In unserem täglichen Tun und Lassen äußert sich die Sorge als unruhiges Be-sorgen, das sich ständig mit dem nächsten Moment, der nächsten Stunde, dem nächsten Tag befasst. Als er sich längst daran gemacht hatte, diese unsere Seinsweise in ihrem Verhältnis zur Zeitlichkeit und zum befristeten menschlichen Dasein zu analysieren, machte ein Zeitgenosse auch Martin Heidegger auf die Fabel von der Cura aufmerksam. Dem guten Martin muss vor Schreck sein Schnauzer verrutscht sein, fand er doch die Essenz seines bisherigen philosophischen Lebenswerks in einer einzigen kleinen Fabel vor sich liegen. Triumphierend hält er sie als Beweis im Mythos für seine zentrale These vor, der Mensch trage aus seiner ontologischen Verfassung heraus notwendig Sorge, deren letztes Objekt stets das Subjekt, also: das eigene Sein, ist. Um die restliche Welt sorgen wir uns dagegen nur in dem Maße, in dem wir uns selbst in ihr wiederfinden. Und so sind wir dazu verurteilt, uns unablässig unseres Fortbestehens zu versichern, uns die Zukunft einzurichten und keinen Augenblick als solchen, losgelöst von unserer Erwartungshaltung an den ungewissen nächsten, erleben zu können. Bei Heidegger klingt das natürlich anders. Auf Heideggerianisch lautet diese Erkenntnis: Im Sich-vorweg-schon-sein-in-einer-Welt liegt wesenhaft mitbeschlossen das verfallende ‘Sein beim’ besorgten innerweltlichen Zuhandenen. Ich glaube, wir meinen dasselbe. Die institutionalisierten Spiele und Lotterien, das tägliche Vergnügen in der gefälligen Zerstreuung, auch ästhetisches Empfinden sind also nichts als ein Verfallen an die Welt, das seinen Ursprung in der Sorge trefflich verschleiert. In der Rückschau auf die letzten Jahrhunderte kann kein Zweifel bestehen, dass sich dieses Verfallen in einem Prozess, den wir Zivilisation nennen, immer neue Bahnen gebrochen hat. Die Wissenschaft begleitet ihn, indem sie die Sorge zu quantifizieren und zu managen erlaubt, und in ebenjener Form begegnet sie uns heute allerorten: als Risiko, das den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit unterliegt. Wie steht’s eigentlich mit unserer Sommerplanung? Cura lässt grüßen. Dein Lucius

Nr. 5, 7. Juni 2020

Lieber Lucius, ja, aus der Welt werden wir nicht fallen. Wir sind einmal darin. Du hast ihn gelungen festgehalten, den kurzen Moment, in dem das Selbstverständliche unverstanden bleibt, in dem die Welt für einen Augenblick zerfällt und der Fuß den festen Tritt nicht findet. Doch der Angst zu viel für den Freitod, ihrer zu wenig für die Geisteskrankheit, folgt beim gesunden Menschen dem Moment des Zerfalls unwillkürlich der Wurf mit tausend Ankern, auf der gierigen Suche nach Land, gleich welchem. Derart verankert lässt sich schwer aus der Welt fallen. Über dieses reiche Wort des deutschen Dichters Grabbe, den Sigmund Freud einen originellen und ziemlich absonderlichen nannte, habe ich wohl mehr nachgedacht, als er selbst, als er es niederschrieb. Nie würde ich einem Dramaturgen zum Vorwurf machen, den letzten Worten seines Titelhelden, wie Grabbe jenen seines Hannibals, nicht den einen oder anderen Gedanken gewidmet zu haben. Doch aus reichen Worten lassen sich allerlei Gedanken schöpfen, wenn man sie ruchlos aus der Fassung reißt und für sich tanzen heißt. Das scheint mir jedem reichen Wort gemein, und liegt darin nicht auch die eigentliche Kunst des Dichters: Das Wort zu finden, aus dem sich Fragen Antwort geben lassen, die der Dichter selbst nie stellte. Was sind also die letzten Worte Hannibals, kurz bevor er zum Gift greift? Aus der Welt werde ich schon nicht fallen. Ich lese darin mehr fest verankerte Siegessicherheit als bangende Hoffnung. Der Anker haben wir genug geworfen, und Spiele gibt’s zu spielen viele. Wir geben den Dingen ihren alten Platz nicht zögernd und nicht nur gar schnell zurück, sondern wir werfen unsere Anker schon nach allen Seiten, bevor jedes Unbehagen keimen könnte. Der vorsorgliche Ankerwurf, der dem Zerfall vorzubeugen hofft, ist mittlerweile unsre liebste Tagesarbeit. Wohl dem, der an schönen Ufern anzulegen vermag. Die Welt inwendig zu sehen, ist uns nur in diesem kurzen Augenblick geheuer, sonst ist uns ihre schöne, auswendige Schale vorbehalten. Vielleicht ist das der kunstvollst gesponnene der vielen faustischen Gedanken. Ja, der Faust, du wirst lachen, der unerschöpfliche Quell, noch immer macht er mir zu schaffen. Faust schlägt das Evangelium nach Johannes auf. Geschrieben steht: "Im Anfang war das Wort!” Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen. Und doch kann er es sich nicht verkneifen, dem ersten Auftritt des Unbehagens, nämlich Mephisto, sofort den Anker zu werfen und zu fragen: Wie nennst du dich? Mephisto ist so amüsiert wie wir. Die Frage scheint mir klein Für einen, der das Wort so sehr verachtet, Der, weit entfernt von allem Schein, Nur in der Wesen Tiefe trachtet. Schon auf Kindesbeinen war mir jeder Schein ein Graus. Immer hatte ich das Gefühl, die ganze Welt sei voller ge­heim­nis­um­wit­terter Namen und Wörter, die erst zerdacht werden müssten, um hinter ihren Schein zu blicken. Wenn ich erst genug rätselte und grübelte, dachte ich, stieße ich auf neues Land. Heute habe ich dieses Gefühl nicht mehr. Vielleicht bin ich, wie es so schön heißt, erwachsen geworden. Gerade unsere Generation scheint mehr von den Namen fasziniert als von dem Leben, das sie benennen. Heiße Magister, heiße Doktor gar. Manche ihrer vielen Namen zu berauben, würde sie in den Zerfall stürzen. Wenn man sie fragt, wer sie seien, wissen sie sich nur zu nennen: Vater von diesem, Sohn von jenem, Student von diesem, Angestellter von jenem, Bekannter von diesem, Anhänger von jenem. Bevor sie ihre vielen Namen aufgäben, ließen sie sich lieber ein Bein ausreißen. Lieber humpeln als zerfallen. Doch bemerkten die Namen irgendwann, auch ohne ihren Gehalt ganz gut zu überleben, wenn nicht gar länger und besser. Die sinnloseste Tätigkeit wird in den schönsten Mantel gehüllt, und schon wird um sie gefochten wie um warme Semmeln in Hungersnot. Zwischen Sein und Schein kaum noch unterscheiden zu können, ist vielleicht unser bedenklichstes Unvermögen (allein die Amerikaner sind uns darin noch voraus, auch wenn wir aufholen). So gehen allzu viele in den schönsten Mänteln durch das sinnloseste Leben. Doch innerlich treibt sie die Angst und der Zweifel; ich weiß es, weil es noch jeder, den man ehrlich fragte, endlich zugab. Überall ein Tanz der Namen, ein Spiel nach dem nächsten, ein Anker und noch ein zweiter hinterher. Nie hat dir die Lächerlichkeit des Spiels hochmütiger ins Gesicht gelacht, und vielleicht braucht es gerade deshalb mehr Worte denn je, um den Schein zu wahren. Ich glaube mittlerweile, dass der Begriff nicht die Benennung dessen ist, was wir bestimmt wissen, sondern die Einzäunung dessen, worüber wir nicht länger nachdenken wollen; und dass der Sinn von Antworten nicht ist, Fragen zu begegnen, sondern sie gar nicht aufkommen zu lassen. Du merkst, ich weiß noch nicht, wie aus all diesen Gedankensträngen einen ordentlichen Zopf flechten. Oder vielleicht weiß ich auch nicht, wie ein ordentliches Gedankengeflecht entwirren. Vielleicht kommt es manchmal aufs Gleiche. Liebe Grüße Simon

Nr. 4, 31. Mai 2020

Lieber Simon, Komödien werden ständig gespielt, nur gehen uns heute ihre Dichter ab. Was den Blick auf das Schauspiel vor unser aller Augen verstellt, ist der fromme Irrglaube, die Welt und die darin handelnden Figuren seien eben so ernst und wichtig, wie sie sich geben. Ganz besonders gilt das für die Politik. In mancher Alpenrepublik, in der ihr Zirkuscharakter nie verhehlt und alle paar Lachnummern völlig offenbar wird, mag es leichter fallen, das Spektakel als kleines Vaudeville des Weltgeschehens zu erkennen. Doch andere Päpste, Premiers und Präsidenten füllen nicht minder die ihnen zugewiesene Rolle aus, wenn sie in steifem Kostüm, umgeben von Chargen, ihren Text aufsagen und das gebannte Weltpublikum mit ihrer improvisierten Choreografie in Atem halten.. Diese Erkenntnis setzt (neben ein paar Achterln) die Fähigkeit voraus, den geübten Blick auf das allzu oft Gesehene völlig abzustreifen, es wortwörtlich mit anderen Augen zu betrachten. Erst das enthüllt die wirkliche, oft komische Essenz der Politik und versetzt überhaupt in die Lage, eine Komödie darüber zu verfassen. Das will mitnichten heißen, es handele sich bei der Politik im Allgemeinen um etwas Irreales oder gar um ein Volksbelustigungsprogramm, wie es uns der Charakter der öffentlichen Debatte glauben macht. Im Gegenteil: Politik ist ganz real, unmittelbar, materiell, existenzentscheidend, allen anderen öffentlichen Gütern vorgeordnet. Sie ist nicht ästhetisch, nur begegnen wir ihr durch die Medien ausschließlich in ästhetisierter Form. So leben wir unter dem verkehrten Eindruck, das große Theater sei Politik und die tatsächliche Politik Requisite. Genug davon. Was ermöglicht diese schlagartige Verschiebung in der Wahrnehmung des Altbekannten? Ein Moment der totalen Entfremdung, das nicht abrufbar, auch nicht mitteilbar ist; es befällt einen ganz unvermittelt im Augenblick der völligen Vertrautheit mit einem Gegenstand. Vergangene Woche, ich hatte gerade eine Tageslänge mit den Freuden der Ökonometrie zugebracht, geschah mir ebendies: Eine seitenlange mathematische Herleitung zerfiel vor meinen Augen in eine formlose Struktur in blauer Tinte, deren stellenweise Verdichtung post-pointillistisch anmutete, während sich die Symbolverkettungen andernorts zu monumentalen Blöcken auftürmten und das ganze Werk auch auf den Kopf gekehrt noch eine ansehnliche Komposition aus lustigen Strichen und Punkten ergab. Einmal so besehen, führt kein Weg mehr zurück in das naive Verständnis der Zeichen. Nicht anders verhält es sich, wenn wir dem Klang eines alltäglichen Wortes nachspüren, weil uns seine Bedeutung im Moment seines Gebrauchs entgleitet, und es uns also ganz unbegreiflich wird und wir es wieder und wieder aussprechen müssen, um ihm seinen Sinn zurückzugeben: Ker-ze, Kert-se, Keah-tse, Kerze. In seiner grausamsten, entmenschlichenden Form widerfährt uns derselbe Verlust beim morgendlichen Blick auf die andere Betthälfte: Das sanft schlafende Wesen, eben noch innigst verbunden, im ersten Licht der Sonne auf einmal ein Fremdkörper, undurchdringlich und unerreichbar. Zusammengekauert liegt er da, ein fast lebloser häutiger Wulst aus Fleisch und Knochen, an dessen einem Ende ein winziger Kopf hängt, dessen Innenleben sich dem eigenen final entzieht. Einzig die Brust hebt sich mechanisch im Takt der Atmung. Beinahe erschrickt man, wenn das ungeheure Ding die Augen aufschlägt und spricht und geht und überhaupt alles an ihm ist, als sei es derselbe Mensch wie tags zuvor. In all jenen Momenten zieht das unbehagliche Gefühl in uns herauf, den Dingen in ihrer Blöße gegenüberzustehen, ehe wir ihnen zögernd ihren alten Platz zuweisen. Das nackte Sein enthüllt sich unwillkürlich zur Stunde der tiefsten Intimität. Wohl dem, der es zu schauen vermag. Du vielleicht? Lucius

Nr. 3, 23. Mai 2020

Lieber Lucius, unter politischem Theater verstehen die Österreicher und die Deutschen zweierlei. Ihr denkt an Brecht, wir nicht. Über Politik will ich dir nicht schreiben, man liest schon andernorts zu viel davon. Nur zur Komödie, in der du, in deinen Worten, deine bescheidene Rolle spielst, in der ich allzu gerne meinen Einsatz verpasse, kann ich dir aus dem letztwöchigen Akt etwas erzählen. Dass ihre Helden Politiker sind, wollen wir einen Zufall nennen. Weniges weilt in dieser Welt, auf das man sich verlassen könnte. Der fünfte Monat war in den letzten Jahren gar verregnet, die Gemüter gedrückt, und fünf Vorsitzende der fünf Parlamentsparteien traten in fünf Jahren im Mai ab. Als es dieses Jahr von Neuem zu regnen begann, warteten wieder alle in gespannter Ungeduld, wen der Mai diesmal hinfortschwemmen würde. Auf manches darf man dann doch vertrauen. Wenn wir so weitermachen, und wenn ich richtig zähle, gibt es bald mehr Rücktritte als Angelobungen. Dabei war der Rücktritt in Österreich über Jahrzehnte eine vom Aussterben bedrohte Art gewesen. Bei euch treten die guten Kanzler zurück, die besten werden abgewählt. Das politische Drehbuch hierzulande bietet nach dem Skandal und vor dem Rücktritt deutlich mehr Gestaltungsspielraum, den man auf Monate oder Jahre ausdehnen kann. Sogar nach dem Rücktritt wartet noch die schweigend geduldete und zunehmend beliebte Variante des Rücktritts vom Rücktritt. Trotzdem staunte man, als eine Kulturstaatssekretärin zurücktrat, schlicht weil sie, ich wiederhole sinngemäß, ihres Amtes nicht derart habe walten können, wie sie es sich vorgenommen hatte. Eine solch einfallslose Ausrede war man nicht mehr gewöhnt; normalerweise inszeniert man einen ordentlichen Skandal, oder lässt sich wenigstens etwas einfallen. Der traditionelle Rücktrittsgrund des österreichischen Politikers, ich habe ihn mehr als einmal gehört, war eigentlich seit jeher gewesen, man wolle sich nun der Wiener Literatur widmen. Was auch immer das heißen soll. Da stelle ich mir die römische Politikerpension verführerischer vor, in der ich in der Bucht von Neapel neben Cato und Horaz in aller Ruhe meinen Lustgarten und ein paar Fischteiche angelegt hätte. Aber man kann sich die Zeit und die Verhältnisse, in die man fällt, nicht aussuchen. Obwohl das eine wie das andere, die kampanischen Gärten wie die Wiener Romane, im Wunsch mehr versprechen, als die Wirklichkeit je halten könnte. Oder, um zu beweisen, dass eine alberne Meinung, einmal gänzlich auf den Kopf gestellt, ihre Richtigkeit behält: Wenn man bereits heute beginnt, was man eigentlich für den Herbst des Lebens aufbewahrt, wäre man vielleicht schon auf dem rechten Weg, oder immerhin auf dem Weg nach Sorrent. Was fasziniert mich an diesem letztlich bedeutungslosen Rücktritt? Ich könnte mich an kein zweites Mal zu meinen bescheidenen Lebzeiten erinnern, dass Künstler und ihre Kritik in der Politik jegliche Wirkung entfaltet, etwa einen Rücktritt herbeigeführt hätten. Dieser Macht waren sich die Künstler nicht mehr bewusst, und sie waren wohl selbst erstaunt und bald reuig, solch einen Tumult ausgelöst zu haben. Eigentlich hatten sie nur um ein wenig Entschädigung gebeten. Dass Kunst mehr leisten kann als unterhalten, hatten wir eigentlich verlernt. Das politische Theater und besonders die Komödie halten wir nicht aus, nur die dreiminütige Satire gelingt uns noch. Aber über Anspielung und Wortwitz kommt die Kritik nie hinaus und zerfällt beim kleinsten Widerstand in tausend Teile. Ihre Mittel mögen kritisch sein, ihr Zweck bleibt die Unterhaltung. Uns bleibt südlich der Alpen nur die Zynik. Sie ist die Waffe des Ohnmächtigen, der aus Verzweiflung, wenn er schon untergehen muss, wenigstens noch einen Zweiten oder gleich die ganze Welt mitreißt. Die Zynik ist der lebenslange Galgenhumor, dessen sich die Österreicher, und ich mit ihnen, allzu oft schuldig machen. Es lebt sich lang und gut damit. Uns fehlt die kathartische Wirkung der gut gemachten Komödie, deren erste Aufgabe wäre, die Lächerlichkeiten dieser Welt zu entblößen und ihnen ihren gespielten Ernst zu nehmen. Die Tragödie ist dieser Zeit nicht gewachsen. Vielleicht wäre gerade die Komödie, die Ungeliebte der neun Musen, die letzte Möglichkeit, dieser Welt noch beizukommen. Die Athener brachten diese Übung in feste Form, ließen zweimal jährlich ihre Komödien gegeneinander antreten und bewiesen in fünf Tagen mehr Selbstironie als wir in den letzten hundert Jahren. Da wären Aristophanes’ friedliebende Stücke, wie die Lysistrata, die alle anderen Athener und Spartaner Damen überzeugt, sich ihren Männern zu entziehen, bis sie endlich den Peloponnesischen Krieg beenden und Frieden schließen mögen. Oder Die Wolken, in denen der Sokrates mithilfe eines Bühnenkrans aus luftigen Höhen herab doziert. Das ist Zeitkritik in fünf Akten, wie ich sie mir vorstelle. Doch einer schlägt sie alle, und er heißt Kratinos, vielleicht hast du von ihm gehört. Nur wenige Zeilen von diesem Mann haben den weiten Weg zu uns überdauert und dem Wind der Zeit getrotzt. Kratinos war der angesehenste Komödiendichter seiner Generation, aber schon ein Greis als der Aristophanes seine großen Siege bei den Dionysosfesten feierte. Wieder und wieder machte sich Aristophanes in seinen Stücken über die stadtbekannte Trunksucht des alten Meisters lustig. Das ließ er sich nicht lange gefallen. Er erklärte den Rücktritt vom Rücktritt, man vermutet mehr als neunzigjährig, und verfasste sein bekanntestes Werk, Die Flasche. In die Hauptrolle setzte er sich selbst und seine Frau, die Kommedia, die ihm mit der Scheidung droht, weil er seiner Geliebten, der Trunksucht, mehr Zuneigung zeige als ihr. Tatsächlich verwies er mit dieser grandiosen Selbstkarikatur Die Wolken des ungeschlagenen Aristophanes auf die Plätze und bewies, dass sein Talent in all den Jahren nicht gealtert, sondern gereift war. Doch der Aristophanes hatte seine späte Rache. Ob der Kratinos da noch lebte, ist nicht gesichert. Zwei Jahre später führte er also den Frieden auf, in dem er nach der Befindlichkeit des Kratinos fragen lässt. Der sei gestorben, «zur Zeit des Einfalls der Spartaner. Ihn traf der Schlag: er überlebt’ es nicht, zerschlagen, ach, ein volles Fass zu sehn!» Das ganze wird erst noch komischer, wenn man annimmt, dass der Kratinos in Wahrheit noch lebte, auf guten Plätzen im Theater saß und vor den eigenen Augen für tot erklärt wurde. Mir ist egal, ob diese komische Vermutung stimmt; ich will daran glauben, es muss so gewesen sein. Es wäre tragisch, wenn nicht. Schönen Sonntag, Simon

Nr. 2, 16. Mai 2020

Lieber Simon, wie passend. Wenig ist mir seit jeher derart zuwider wie das Sterndeuten, diesem hilflosen Stochern im Nichts. Ich entsinne mich lebhaft, es schon als Kind regelrecht als Zumutung empfunden zu haben, der gedachten unendlichen Verlängerung fremder Zeigefinger folgend, dem Chaos am Himmel eigenartige Muster aufzuerlegen, um daraus doch nicht schlauer zu werden. Meine Aversion reicht so weit, dass ich mich nicht einmal dazu aufraffen kann, mir wenigstens grundlegende astrologische Kenntnisse für gewisse zweisame Gelegenheiten anzulesen. Woher solche Abneigung gegen ein paar unschuldig prangende Himmelskörper? Es muss die Fadenscheinigkeit ihrer willkürlichen Ordnung sein. Vorbei sind die Zeiten, in denen der Himmel noch Spiegel der Weltläufte sein durfte, in dem Vergangenheit und Zukunft, Hier und Dort zu einem Bild verschmolzen. Vorbei auch der Glaube, ein allumfassender göttlicher Wille durchwirke den Kosmos hier unten wie dort droben. Die Sternbilder, die Wolkengötter, der blauschimmernde Äther, die himmlischen Sphären der Harmonie – alle wurden sie hinterrücks zerschmettert und zerschlagen. Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, aus den verstreuten Bruchstücken wieder ein Ganzes zu basteln und zwischen uns und dem nunmehr unendlich tiefen Nachthimmel aufzuspannen, wie es die jämmerliche Astrologie unserer Tage versucht. Nein, die Sterne von heute sind wahrlich nicht mehr das, was sie einmal waren; bestenfalls der fahle Abglanz eines verheißungsvollen Schillerns, das für alle Zeit erloschen ist. Wie glücklich wir uns schätzen können, in besseren Zeiten zu leben. Scherzchen. Der wissenschaftliche Fortschritt, dem wir ihren Verlust zu verdanken haben, lässt sich freilich von seinen eigenen Sternbildern leiten. Da wäre einmal der moderne Polarstern: der unerschütterliche Fortschrittsglaube. Er hat sich ein gewaltiges System aus Forschung, Lehre, Wirtschaft und Öffentlichkeit geschaffen, das völlig auf ihn aus- und abgerichtet ist. Man stelle sich einmal vor, jemand zöge die Sinnhaftigkeit einer wissenschaftlichen Entdeckung in Zweifel – unerhört! Schließlich handelt es sich vermutlich um einen wichtigen Beitrag zur weiteren Entwicklung der Grundlagen eines vielversprechenden neuen Teilgebiets. Da wären simple Ordnungsprinzipien zur Systemerhaltung. Ich ertappe mich selbst nicht selten dabei, alle jene Gedanken, Beobachtungen, Affekte, die sich dem nüchtern-sachlichen Weltzugang entziehen, in die isolierten, geringgeschätzten Gebiete der „Romantik“ oder der „Spiritualität“ zu verbannen, wo sie sich austoben können, ohne weiteren Schaden anzurichten. Oder da wäre der starrsinnige Glaube, die wissenschaftliche Methode könne voraussetzungslos und nur aus sich heraus Erkenntnisse schöpfen. In dieser Hinsicht bin ich leidgeprüft, da sich die Universitäten zunehmend darauf beschränken, Methoden zu unterrichten, oder, wo dies noch nicht der Fall ist, wenigstens die Form ungleich höher achten als den Inhalt. So kommt es auch, dass ich weniger Philosophie als Argumentation, weniger Politik als Forschung und weniger Wirtschaft als Mathematik studiere. In letzterem Zusammenhang plage ich mich zur Stunde mit einer anderen Illusion herum – der nämlich, dass eine Krise nur die Fortführung der Normalität unter anderen Umständen sei. Wir Studenten sind tatsächlich dazu angehalten, unsere schriftlichen Prüfungen zuhause zu absolvieren, uns aber wie gewohnt dafür vorzubereiten, freiwillig den empfohlenen Zeitrahmen einzuhalten und keiner der üblichen Vorschriften zuwiderzuhandeln. Kontrollieren lässt sich nichts von alledem. Das allseitige Schweigen über die Abwegigkeit dieser Regelung tut das Übrige, um die ganze Chose der Lächerlichkeit preiszugeben. Es gilt, nach außen hin einen Schein zu wahren, der der Universität einen guten Ruf und den Studenten gute Noten beschert. Im Grunde eine recht armselige Komödie. Ich melde mich wieder, wenn meine bescheidene Rolle darin gespielt ist. Dein Lucius

Nr. 1, 9. Mai 2020

Mein lieber Freund, schon zwei Wochen nach dem hellsten Vollmond des Jahres lud das Welttheater erneut ein, sich in der Neumondnacht unter dem Himmelszelt zu versammeln und dem Meteorenspektakel beizuwohnen. Derlei Einladungen folgt man gerne, und so fanden auch wir uns ein. Doch nach der zehnten, ich muss es gestehen, hatten wir nicht länger Augen für den Sternenschauer. Wie hochmütig kann ein Wesen sein, dass ihm die größten Wunder in der kürzesten Zeit zur Gewohnheit werden? Bis in den Morgengrauen lagen wir unter dem Sternengewölbe, erklärten uns seine rätselhaftesten Windungen und suchten nach Sternbildern, und noch während wir schliefen und niemand mehr zum Himmel aufsah, müssen hunderte glühende Schweife über den Nachthimmel gezogen sein. Es liegt darin ein anmutiger Zauber, den ich nicht benennen kann: Hunderte Sternschnuppen regnen herab, und keiner sieht’s. Jetzt, einmal vom Land in die Stadt heimgekehrt, verstecken sich die Gestirne vor mir und noch immer wundere ich mich über die Sternbilder. Denn wo legt der Mensch seinen bedenklichsten Angsttrieb großzügiger aus: nämlich Ordnung zu suchen, wo keine zu finden ist. Wie in allen Dingen wählt sich auch der Sternbetrachter seine Lieblinge und nach Möglichkeit die eigenen und ausschließlich eigenen. Du wirst also meine Bestürzung verstehen, als ich in den Zeilen Doderers ihn von meiner Kassiopeia sprechen hörte. Nicht dass ich je einzig auf die Kassiopeia geschworen hätte, aber jetzt, da der Doderer sie einmal für sich beansprucht hat, will ich sie auf gar keinen Fall mehr. Die Kassiopeia kann ja schlechterdings nicht dem Doderer und mir gleichzeitig gehören. Auch die Flucht zum Jäger Orion will nichts nützen, jagt der schon bei Homer die Bären allnächtlich übers Firmament. Nebenan wachen schon der Bärenhüter Boötes und seine Jagdhunde, und unweit König Kepheus, seine Frau Kassiopeia und ihre Tochter Andromeda, das Meeresungeheuer Ketos und die restliche Perseussage. Überhaupt ist das Himmelszelt so voller Geschichten, man sieht die Bäume nicht vor lauter Wald. Es ist, wie ich denke, derselbe ordnungsliebende Angsttrieb, der uns einerseits solch Geschichten in den Nachthimmel dichtet, der uns andererseits in jener Neumondnacht die rätselhaften Windungen der Planeten erklärte. Dass er einmal richtig, einmal falsch liegt, kann er ja selbst nicht wissen. Ich wundere mich also keineswegs über die Sternbilder, wie ich gerade merke, fiele mir kein menschlicherer Einfall ein, als zwischen den hellen Löchern einer schwarzen Himmelsdecke seine Geschöpfe zu zeichnen, ihnen Leben einzuhauchen und nächtens in allerlei Mären zu verstricken. Lieber als an die unbegreifliche Entfernung der Gestirne, die Unendlichkeit der Dunkelheit und die erdrückende Unfassbarkeit dieses Weltenblicks zu denken, schaue ich dann doch Homers allnächtlicher Bärenjagd zu, oder dem Jupiter in seinen geordneten Bahnen. Das erinnert an einen weiteren der unzähligen Besitzansprüche der Geschichte: an jenen Werthers, den nach ihm mehr als ein Leser geltend machen würde: mein Homer. Was uns vom Hundertsten ins Tausendste brächte und schließlich zu meinem liebsten führt, nämlich jenem des Schauspielers Otto Schenk und meinem Stephansdom: «Ich will keine Wohnung, wo ich den Stephansturm nicht sehe. Das ist mir bisher gelungen. Die Oper haben sie mir vor der Nas’n weggebombt. Aber der Stephansturm war ja mein Eigentum. Ich habe schon gezittert, dass sie mir den zamhaun. Nein: Den haben’s ma stehenlassen.» Nicht zufällig wohnt all diesen Dingen, auf die allzu gern Anspruch erhoben wird, sei es die Kassiopeia, sei es der Stephansdom, eine gewisse Unsterblichkeit inne, an der man sich vielleicht festkrallen könnte, wenn man sie nur lang genug sein eigen nannte. Denn die Welt steht nur für mich, und wenn ich endlich sterben muss, stirbt also eine Welt. Die Spiele, die er spielt, der Mensch, um sich den bittersten Gedanken vom Leib zu halten. Wie du weißt, muss der Tod ein Wiener sein, was uns unweigerlich zu dem umkämpftesten und zwiespältigsten Besitzanspruch von allen bringt: mein Wien. Aber dazu besser ein andermal. Auf bald, Simon